Mittwoch, 7. Januar 2015

Terrorismus in Frankreich: Lange zurückreichende Gewalt

Historisch betrachtet ist Paris unter westeuropäischen Großstädten oft von Terrorismus betroffen, der seinen Ursprung im Nahen und Mittleren Osten hat. In der Regel reagierte man darauf mit einer Mischung aus Härte und Pragmatik.

Die Terrorwelle in den 1980er Jahren
Noch in den 1970er Jahre trachtete man danach, Frankreich durch Neutralität aus internationalen Konflikten herauszuhalten und Terroristen so keinen Anlass zu geben, Aktionen gegen französische Ziele im In- und Ausland vorzunehmen. So wurde etwa die Tätigkeit der PLO in Frankreich toleriert und ein Netz an guten Beziehungen zu zahlreichen arabischen Staaten geknüpft, mit dem Effekt, dass das Land vom nahöstlichen Terrorismus dieser Epoche praktisch verschont blieb.

Dass änderte sich während der 1980er Jahre jedoch grundlegend: Die Intervention im Libanon, die Unterstützung des Tschad gegen eine libysche Invasion und Waffenverkäufe an den Irak während des Golfkrieges gegen den Iran führten dazu, dass es zu Vergeltungsanschlägen auf französischem Boden kam. Der Höhepunkt war eine Welle von Attentaten im Februar, März und September 1986 in Kaufhäusern, U-Bahnen und öffentlichen Gebäuden, die 11 Tote und mehr als 220 Verletzte forderte; es gab aber auch Angriffe gegen französische Einrichtungen im Ausland, wie das Attentat auf die Friedenstruppen im Libanon (1983), die Geiselnahme französischer Bürger in Beirut durch pro-iranische Milizen sowie die Sprengung eines französischen Airliners (1988). Abgesehen davon wurde die französische Hauptstadt auch zum „Schlachtfeld“ innerarabischer Auseinandersetzungen, etwa zwischen Syrien und dem Irak.

Nichtangriffspakt mit Abu Nidal
Obwohl stets dementiert, dürfte sich die Regierung von Premierminister Jacques Chirac gegen diese Bedrohung nur durch Verhandlungen und Konzessionen an die staatlichen Sponsoren der Terrorgruppen zu helfen gewusst haben. Im Februar 1986 wurden zwei Mitglieder der Abu-Nidal-Gruppe, die acht Jahre zuvor einen PLO-Repräsentanten ermordet hatten, plötzlich freigelassen. Vier Jahre zuvor hatte Abu Nidal ein blutiges Attentat im jüdischen Viertel von Paris verübt – offenbar auch, um Druck auf die französische Regierung auszuüben. Mitterrand soll daraufhin Pierre Marion, Chef des Auslandgeheimdienstes DGSE, autorisiert haben, den Terroristenführer zu töten, wenn sich die Gelegenheit bot. Man zog jedoch den Verhandlungsweg vor: Es soll ein geheimes Treffen zwischen Joseph Franceschi, dem französischen Sicherheitsminister, und Abu Nidal stattgefunden haben. Das Treffen führte angeblich zum Abschluss eines Pakts, in dem sich letzter verpflichtete, künftig keine französischen Ziele anzugreifen.  

Wie der britische Journalist John Follain in Interviews in Erfahrung brachte, hatte darüber hinaus Pierre Marion im September 1982 von Präsident Mitterrand Zustimmung erhalten, mit syrischen Stellen zu verhandeln, keine Attentate mehr in Frankreich zuzulassen. Daraufhin soll Marion ein Treffen mit Rifaat al-Assad, dem Bruder des syrischen Präsidenten, auf dem Golfplatz von Saint-Nom-la-Breteche arrangiert haben. Der Geheimdienstchef versprach bessere Beziehungen mit Frankreich, wenn Syrien seinen Einfluss geltend machen würde. Sollte dies nicht geschehen würde man gegen die Unterstützungsnetzwerke der Terroristen in Frankreich und anderen europäischen Ländern vorgehen – so auch gegen syrische Diplomaten (im Frühjahr 1982 hatte der Action Service, eine Eliteeinheit des DGSE, einen syrischen Kulturattache in Madrid bei einem Vergeltungsschlag schwer verletzt). Rifaat al-Assad soll daraufhin einen Art Nichtangriffspakt besiegelt haben. Interessanterweise flog Yves Bonnet, Chef des französischen Inlandsgeheimdienst DST – und Rivale seines Kollegen Marion – zwischen 1983 und 1985 mehrmals nach Damaskus und traf sich mit General Mohamed Al-Khuli, dem Befehlshaber des Geheimdienstes der syrischen Luftwaffe. Bonnet gab weiters an, mit „Leuten von der Abu-Nidal-Gruppe“, die „nicht unahngenehm, aber aufgebracht“ waren, gesprochen zu haben.

Die Verhandlungen mit den Syrern zogen sich noch länger hin: Laut „Le Monde“ besuchte eine französische Delegation im September 1986 Damaskus, wo man im Gegenzug für Waffenlieferungen, Informationen und Wirtschaftshilfe übereinkam, dass Syrien die Unterstützung für Terrorakte in Frankreich beendete und auf die Freilassung der Geiseln im Libanon hinwirkte. Drei Geiseln wurden daraufhin im November 1986 freigelassen. Dem Autor Douglas Porch zufolge hörten die Attentate in Frankreich danach auf, aber es gab einen „Preis“ zu bezahlen: „In jedem Fall gingen die terroristischen Angriffe auf Frankreich zu Ende. Aber der Preis war ein moralischer Kompromiss, der Frankreich im Interesse guter Beziehungen dazu verpflichtete, in die andere Richtung zu schauen, wenn von Syrien gesponserte Gruppen amerikanische und israelische Diplomaten angriffen.“

Deal mit dem Iran
Am 17. November 1987, wenige Wochen nachdem der französische Emissär Nicolas Ignaziew nach Beirut und Damaskus geflogen war, wurde zwischen Frankreich und dem Iran ein formelles Abkommen unterzeichnet, in dem sich Paris verpflichtete, einen Kredit, den der Schah einst gewährt hatte, zurückzuzahlen. Nach dem Sturz des Machthabers waren die Gelder in der Höhe von einer Milliarde Dollar „eingefroren“ worden. Außerdem verpflichtete sich Frankreich zur Lieferung von Waffen in den Iran als weitere Gegenleistung für die Freilassung der in Beirut verbliebenen Geiseln: Im März 1988 flog der Unterhändler Jean-Charles Marchiani zunächst nach Beirut, Damaskus und Wien, um die Details auszuverhandeln. Im Gegenzug landete am 4. Mai 1988 ein Flugzeug mit den drei französischen Staatsbürger, die jahrelang im Libanon festgehalten worden waren, auf einem Militärflughafen in der Nähe von Paris – nur vier Tage vor der entscheidenden Stichwahl um das Präsidentenamt zwischen Jacques Chirac, der als Premierminister den Deal eingefädelt hatte, und Amtsinhaber Francois Mitterrand am 8. Mai 1988. Der Ausgang des Duells wurde durch die Lösung der Geiselkrise jedoch nicht beeinflusst: Mitterrand gewann die Wahl und blieb weiterhin Präsident.

Teil der Vereinbarung war offenbar auch die Freilassung von verurteilten Terroristen in Frankreich: So wurde jener Wahid Gordiji, der als mutmaßlicher „Mastermind“ vieler Anschläge im Jahr 1986 in der Pariser Botschaft des Iran Schutz gesucht hatte, 1987 mit einer Polizeieskorte zum Flughafen gebracht. Drei Jahre später wurden weitere fünf Terroristen mit Verbindungen zum Iran entlassen und nach Teheran gesandt: Der prominenteste von ihnen war ausgerechnet jener Anis Naccache, der 1975 an der Seite von Carlos am OPEC-Überfall in Wien teilgenommen hatte. Nunmehr in iranischen Diensten hatte er 1980 erfolglos versucht, den letzten Premierminister des Schah, Shahpur Bakhtiar, in Paris zu ermorden. Dabei waren ein Polizist und eine Anwohnerin getötet worden. Nach zehn Jahren Haft wurde Naccache gemeinsam mit vier weiteren verurteilten Terroristen entlassen. Selbst was den außenpolitischen Kurs anging, kam es infolge der Terrorbedrohung zu Korrekturen: Frankreich zog aus dem Libanon ab, schraubte die Unterstützung für den Irak im Golfkrieg zurück und nahm mit dem Iran wieder diplomatische Beziehungen auf. Im Gegenzug blieb das Land von Terroraktivitäten bis Anfang der 1990er Jahre verschont.

Die 1990er Jahre: Anschläge algerischer Extremisten
Zu diesem Zeitpunkt begannen algerische Extremisten Ziele in Paris anzugreifen, weil Frankreich das autoritäre Regime der FLN gegen die radikal-islamistische Opposition unterstützte. Im Unterschied zu den 1980er Jahren schlugen die Behörden einen präventiven Ansatz gegen das Netzwerk algerischer Extremisten im Land ein: Im Rahmen von „Operation Chrysanthemum“ wurden innerhalb von zwei Tagen 110 Personen verhört und 87 verhaftet; 1994 zerschlug man das „Chalabi“-Netzwerk, eine wichtige Unterstützungsgruppe für den Kampf der radikal-islamischen Heilsfront FIS gegen die algerische Regierung, gefolgt von weiteren Verhaftungswellen 1995 und 1998. Ein entführter Air France-Flug wurde am 26. Dezember 1994 in Marseille von einem Kommando Elitegendarmen gestürmt und alle Luftpiraten wurden dabei getötet. Trotz der vorbeugenden Maßnahmen sollte im Juli 1995 eine Anschlagswelle beginnen, die bis Oktober 1995 10 Tote und 150 Verletzte forderte. Die Regierung reagierte umgehend mit der Verabschiedung härterer Antiterrorgesetze und mobilisierte 32.000 Soldaten, Polizisten und Zollbeamte zur Sicherung der Hauptstadt. Innerhalb von Wochen wurden bis zu drei Millionen Ausweise überprüft und 70.000 Personen für eine eingehende Befragung auf die Polizeireviere mitgenommen. Im Unterschied zu 1986 gelang es den Behörden aber, die Verantwortlichen für die Terrorakte innerhalb von vier Monaten  auszuforschen.

Neue Bedrohungen
Gegenwärtig sieht sich Frankreich mit einer neuen Form des Terrorismus konfrontiert, der bislang von Einzeltätern ohne staatliche Unterstützung oder Anbindung an Gruppen betrieben wurde:

  • Im März 2012 erschoss der 23-jährige Mohammed Merah innerhalb von vier Tagen in Toulouse und Montauban drei Soldaten auf offener Straße. Wenige Tage später tötete er drei Kinder und einen Lehrer einer jüdischen Schule in Toulouse. Am 22. März 2012 wurde Merah von einer Spezialeinheit getötet. 
  • Jener Attentäter, der am 24. Mai 2014 das jüdische Museum in Brüssel überfiel, war ein französischer Syrien-Rückkehrer. Schätzungsweise zwischen 700 und 1.000 französische Staatsangehörige haben sich dem Islamischen Staat (IS) im Irak und in Syrien angeschlossen.
  • Im Dezember 2014 Dijon fuhr ein Autofahrer 13 Fussgänger an, während ein mit einem Messer Bewaffneter einen Polizeiposten in Joué-lès-Tours überfiel. Bei beiden Vorfällen gab es Hinweise auf radikal-islamistische Motive der Täter. 
  • Vieles deutet darauf hin, dass der neue Terrorismus wie schon in den 1980er und 1990er Jahren unter anderem auch auf die außenpolitische Rolle Frankreichs abzielt – dies betrifft etwa die zu Ende gehende Präsenz in Afghanistan sowie die Interventionen gegen radikal-islamistische Gruppen in Mali und gegen Rebellen im Tschad. IS hat auch öffentlich dazu aufgerufen, Anschläge in Ländern zu verüben, die Teil der von den USA geführten Allianz sind.