Donnerstag, 29. Oktober 2015

Exkurs: „Meinen Körper in den Kampf werfen“ – der ungeklärte Mordfall Pier Paolo Pasolini

Vor 40 Jahren, in den frühen Morgenstunden des 2. November 1975, wurde Pier Paolo Pasolini ermordet – der damals 52jährige Publizist, Dichter, Regisseur und bekennende Homosexuelle hatte wie kein anderer Intellektueller das Nachkriegs-Italien polarisiert und aufgeschreckt. Vier Jahrzehnte später wirft sein Tod viele Fragen auf: Wurde der streitbare Geist Opfer eines Komplotts?

Es war kein Mord, sondern eine grausame Hinrichtung: „Als Pasolini tot aufgefunden wurde, lag er auf dem Bauch mit dem Gesicht zu Boden, der blutige Arm vom Leib abgewinkelt, der andere unterm Körper. Die blutverkrusteten Haare fielen über seine aufgeschürfte und aufgeplatzte Stirn. […] Zehn Rippen waren gebrochen, ebenso das Brustbein. Die Leber war an zwei Stellen auseinander gerissen. Sein Herz war geplatzt.“ So lautete der Bericht einer Tageszeitung – man hatte den geschundenen Leichnam in der Nähe des Idroscalo (Wasserflughafen) von Ostia, 28 km von Rom entfernt, gefunden – zwischen Werften und Lagerschuppen. Die Anwohnerin, die Leiche fand, dachte zunächst, es wäre Müll und wollte diesen in die Tonne werfen.
Meldung der Arbeiter-Zeitung vom 4. 11. 1975 (Quelle: www.arbeiter-zeitung.at)

„Er wollte die Rollen tauschen“
Nur Stunden zuvor, in einer kalten und regnerischen Nacht, hatte Pasolini mit Freunden in einer Gaststätte zu Abend gegessen. Er war gerade eben aus Stockholm zurückgekommen. Dort hatte er Ingmar Berman getroffen und andere aus der schwedischen Avantgarde-Filmszene. Und er hatte dem Magazin „Espresso“ ohne es zu wissen, sein letztes Interview gegeben. Darin bekannte Pasolini, die Konsumgesellschaft für eine schlimmere Form des Faschismus zu halten, als die „klassische“ Variante. Beim Essen war er dann schweigsam, verabschiedete sich früh und setzte sich ans Steuer seines Alfa Romeo 2000. Im Bahnhofsviertel, an der Piazza Cinquecento, las Pasolini den 17jährigen Guiseppe Pelosi auf – der schmächtige Junge wurde „Pino la rana“ (Pino, der Frosch) genannt. Nach einem Zwischenstopp brachen sie um 23.30 Uhr zum Strand von Ostia auf. Dort soll es dann zu einem folgenschweren Streit gekommen sein. „Er wollte die Rollen tauschen. Ich weigerte mich. Er hat mich geschlagen und mich Schwein geschimpft. Ich Schwein. Und was war er? Und dann wurde mir schwarz vor den Augen, und ich habe mit aller Kraft zugeschlagen“, sagte Pelosi dem Untersuchungsrichter. Nachdem Pasolini am Boden lag, habe er die Flucht ergriffen und das Opfer ohne es zu wissen mit dem Auto überrollt.

Denkmal für Pasolini am Schauplatz des Mords in Ostia (Quelle: Wikimedia Commons/Stef48)
Pelosi wurde kurze Zeit später völlig verwirrt aufgegriffen. Von Anfang an gab es Zweifel, ob er Alleintäter war. Der Jugendliche hatte kaum Blutspuren an sich gehabt. Auch war der Körper Pasolinis mit schwereren Waffen verletzt worden, als den sichergestellten Tischbeinen. Die Liste der Fragezeichen war jedenfalls lang, wie das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ 1985 zusammenfasste: „Auf dem Idroscalo waren Fußspuren gefunden worden, die jedenfalls von den erst am Sonntag Fußball spielenden Jungen nicht herrühren konnten. Wem gehörten der Pullover und die abgelöste Schuhsohle in Pasolinis Auto, die sich weder dem Täter noch seinem Opfer zuordnen ließen? Wie waren die Spuren von Pasolinis Blut auf das Dach über der Beifahrertür gelangt, wenn der Mörder, wie er behauptet, allein den Wagen bestieg? Was hatte es mit jenem mit vier Mann besetzten und in Catanzaro zugelassenen Auto auf sich, das – einem anonymen Briefeschreiber zufolge - Pasolinis Alfa Romeo nach der Wegfahrt vom Restaurant am Tiber verfolgte? War es vorstellbar, dass der muskulöse, durch regelmäßiges Fußballspiel austrainierte Pasolini im Zweikampf mit einem Siebzehnjährigen unterlag?“ So sprach das Gericht in erster Instanz von unbekannten Mittätern. Die Spuren wurden aber nicht weiterverfolgt, und das Kassationsgericht erklärte Pelosi schließlich zum Einzeltäter. Dieser saß sieben Jugendhaft ab und schwieg – auch als er erneut eingesperrt wurde, diesmal wegen eines Raubüberfalls. Erst 2005 erklärte der nunmehr 47jährige „Frosch“ im Interview mit dem Sender „Rai Tre“: „Ich habe ihn nicht umgebracht, sie waren zu dritt, ich habe ihn verteidigt.“ Es seien drei ihm unbekannte Süditaliener gewesen, einer habe ihn festgehalten, die anderen beiden hätten auf Pasolini eingeprügelt. Dabei hätten sie gebrüllt: „Bastard“, „Drecksschwuchtel“ und „dreckiger Kommunist“. Einer der Mörder habe gedroht, ihn und seine Eltern umzubringen, falls er gesprochen hätte. Pelosi hielt also dicht, bis seine Eltern nicht mehr lebten – in der Zwischenzeit sollen auch zwei der angeblichen Mörder, die Neofaschisten Franco und Guiseppe Borselino, gestorben sein.

Pelosis Angaben ähneln der Beobachtung eines Zeugen – dieser hatte Sergio Citti, einem engen Freund Pasolinis, zehn Tage nach dem Mord ein Interview gegeben: „Ich habe zwei Autos gesehen. Vier oder fünf Männer stiegen aus. Sie zerrten Pasolini aus dem Wagen und schlugen sofort zu. Er schrie und schrie. Dann fiel er zu Boden. Die Männer ließen von ihm ab und gingen zu dem Wagen. Dann aber kam ein Wagen zurück. Er leuchtete mit den Scheinwerfern auf Pasolini. Dieser war aufgestanden und versuchte zu entkommen. Er hatte sich wohl tot gestellt. Die Männer verfolgten ihn zu Fuß. Sie schlugen ihn mit einem Holzknüppel nieder. Dann fuhr das Auto absichtlich mehrere Male über den am Boden liegenden Körper.“ Citti wollte den Mann dazu bewegen, seine Aussage vor der Polizei zu wiederholen. Dieser weigerte sich aber. Citti, der mittlerweile ebenfalls verstorben ist, vermutete, dass Pasolini in eine Falle gegangen war – mit Pelosi als Köder. Schließlich mache es keinen Sinn, den langen Weg nach Ostia zurückzulegen, nur um Sex zu haben. Vielmehr habe Pasolini in seiner Todesnacht versucht, eine gestohlene Arbeitskopie seines letzten Films zurückzukaufen. Ein anderer Autor wiederum ordnete die Mörder der „Banda della Magliana“ zu, der römischen Mafia. Und natürlich gibt es Stimmen, die den Staat und die Geheimdienste direkt bezichtigen.
Der Schauplatz in Ostia heute (Quelle: Wikimedia Commons/Mac9)
„Ich danke den Teufelsjungen“
Pasolini wurde 1922 in Bologna als Sohn eines Berufsoffiziers und einer Bauerntochter geboren. Früh hatte er traumatische Erlebnisse zu verkraften: Sein Bruder Guido wurden 1945 bei einer Auseinandersetzung verfeindeter antifaschistischer Partisanengruppen erschossen; der Vater war gewalttätig. Nach dem Studium von Kunstgeschichte und Literaturwissenschaft lebte Pasolini zunächst im ländlichen Friaul, der Heimatgegend seiner Mutter. Dort trat er 1947 in die Kommunistische Partei Italiens (KPI), betätigte sich im Bezirk Casarsa als Parteisekretär und schrieb erste Dialektgedichte. Pasolini, damals als Volksschullehrer tätig, war konservativen Kreisen rasch ein Dorn im Auge und wurde des Missbrauchs Minderjähriger beschuldigt. Zu Unrecht, wie sich vor Gericht herausstellte. Trotzdem wurde Pasolini suspendiert und aus der KPI ausgeschlossen: „Auf mir lastet das Schandmal von Rimbaud oder von Dino Campana oder auch von Oscar Wilde, ob ich will oder nicht, ob die anderen es akzeptieren oder nicht.“ Aufgrund der politischen Ausgrenzung sah Pasolini seinen Platz zeitlebens außerhalb der KPI – als unbequemer Dissident. Das änderte aber nichts an seiner Überzeugung, dass nur diese Partei zu einem grundlegenden Wandel der italienischen Verhältnisse imstande war.

Als er 28 Jahr war, verzogen Pasolini und seine Mutter nach Rom – dort fand er 1951 eine Lehrer-Anstellung und wohnte eine Zeitlang in Ponte Mammolo. Es war eine prägende Zeit, die er im dortigen Milieu der „borgate“, der Vorstadtjugend verbrachte: Arbeitslose, entwurzelte Zuwanderer aus Süditalien, Zuhälter und Kleinkriminelle. „Die jungen Kerle“, meinte ein Freund Pasolinis später, „machten ihm im zunehmenden Alter zwar Angst, aber zugleich fühlte er sich von ihren archaischen Instinkten und Gedanken fast magisch angezogen.“ In zwei Romanen –„Ragazzi di vita“ (Kerle des Lebens, 1955) und „Una vita violenta“ (Ein gewaltsames Leben, 1959) – beschrieb Pasolini den gewalttätigen, aber auch ungezähmt-freien Alltag in den „borgate“ mit dokumentarischer Präzision. „Ich danke all den ‚Teufelsjungen‘“, schrieb er in einer Nachbemerkung des zweiten Buchs. Aber nicht nur in Romanen setzte Pasolini den „borgate“ ein Denkmal, sondern vor allem als Regisseur von schockierenden Sozialdramen wie „Accatone“ (1961) und „Mamma Roma“ (1962), die in den Baracken am Rande der Ewigen Stadt spielen. Weiters setzte sich Pasolini in „Edipo Re“ (1967) mit den bedrückend spießbürgerlichen Verhältnissen in Italien auseinander oder benutzte antike Mythen und Literaturvorlagen als Folien für gesellschaftskritische Aussagen („Edipo Re“, 1968 oder „Medea“, 1969). Bis heute heftig umstritten ist Pasolinis letzter Film von 1975: „Salò o le 120 giornate di Sodoma“. Darin foltern, missbrauchen und töten Kader der untergehenden faschistischen Republik von Salò eine Gruppe von verschleppten Jugendlichen. In einem Interview führte Pasolini aus, dass es ihm vorrangig um die Beziehung zwischen Mächtigen und Machtlosen gegangen sei – und wie sich diese körperlich-sexuell auswirke.

Kein Wunder, dass Pasolinis Werk nicht nur viel Widerspruch, sondern blanken Hass hervorrief. In 33 Jahren wurde ihm aufgrund von Anzeigen wegen „Blasphemie“, „Pornografie“, „Diffamierung“, „Hausfriedensbruch“ oder „Obszönität“ 33mal der Prozess gemacht. Obwohl in zweiter oder höherer Instanz stets freigesprochen, nahm Pasolinis Image stets Schaden. Immer wieder wurde er auch physisch angegriffen. Schon 1964 versuchten Neofaschisten Pasolini mit einem Auto zu überfahren. Nur wenige Tage vor dem Mord in Ostia wollten ihn zwanzig Rechtsextreme von einer Brücke werfen. Als der Unruhstifter dann schließlich sein schreckliches Ende fand, meinte niemand Geringerer als der damalige Minister Giulio Andreotti: „Er hat es doch so gewollt“ (wofür er sich später entschuldigte). Ein anderer Kommentator, der Regisseur Bernardo Bertolucci, erklärte erst 2005: „Wer ihn getötet hat, der fühlte sich nicht nur im Recht, sondern glaubte auch, das Land gesäubert zu haben.“

Gegen die Diktatur des Konsums
Anfang der 1970er Jahre war Pasolini zweifellos einer der einflussreichsten Intellektuellen Italiens. Vor allem weil er sich mit allen gesellschaftlichen Kräften anlegte – der Rechten wie der Linken. In dem 1964 veröffentlichten Gedicht „Una disperata vitalità“ (Eine verzweifelte Vitalität) heißt es fast programmatisch: „Man muss den Bürger lauter denn je die Verachtung erklären, anschreien gegen ihre Primitivität, spucken auf die Unwirklichkeit, die sie sich zur Wirklichkeit wählten, in keinem Akt und keinem Wort ablassen vom totalen Hass gegen sie und ihre Polizei, ihre Justiz, ihr Fernsehen, ihre Presse...“ Ein anderes Mal bekannte Pasolini: „Ich möchte mich durch Beispiele ausdrücken. Meinen Körper in den Kampf werfen. Doch wie die Taten des Lebens Ausdruck sind, ist auch der Ausdruck Tat.“

Pasolini war gnadenlos in seiner Kritik von „Konsumismus“, „Amerikanisierung“, „Verbürgerlichung“ und „zur Ware verkommene Erotik“. Der postindustrielle Wandel hatte selbst vor den „borgate“ nicht Halt gemacht – für Pasolini verloren die Vorstädter dadurch jedes revolutionäres Potential und zielten nur mehr Konsumgüter ab. „In wenigen Jahren sind die Italiener zu einem heruntergekommenen, lachhaften, monströsen, kriminellen Volk geworden“, ärgerte sich Pasolini. Ein anderes Mal meinte er gar: „Was für ein wunderbares Land war Italien während des Faschismus und unmittelbar danach.“ Damit brachte Pasolini seine Überzeugung zum Ausdruck, dass die Diktatur des Konsums über die Macht des Fernsehens alles gleichschalte und jeden Widerstand eingemeinde. 1974 schrieb er: „Die kulturelle Durchdringung der Welt durch ein konsumorientiertes, alles assimilierendes Zentrum hat die verschiedenen Kulturen der Dritten Welt zerstört (ich spreche hier noch im Weltmaßstab und beziehe mich daher auf die Kulturen der Dritten Welt, denen die bäuerliche italienische Kultur im Grunde gleicht). Das Kulturmodell, das den Italienern (und im Übrigen allen Menschen der Erde) angeboten wird, ist nur ein einziges. Die Angleichung an dieses Modell erfolgt vor allem im Gelebten, in der Existenzweise, infolgedessen im Körper und im Verhalten. Hier werden bereits die Werte der neuen Kultur der Konsumzivilisation gelebt, das heißt des neuen und repressivsten Totalitarismus, den man je gekannt hat – auch wenn diese Werte noch nicht ganz ihren Ausdruck gefunden haben.“ Wenige Monate später legte Pasolini nach: „Alle Hindernisse sind aus dem Wege geräumt. Die neuen Mächte brauchen keine Religionen mehr, keine Ideale und ähnliches, um das zu verhüllen, was Marx enthüllt hatte. Wie Legehühner haben die Italiener sofort die neue, irreligiöse und gefühllose Ideologie dieser Herrschaft geschluckt: So groß ist die Anziehungs- und Überzeugungskraft der neuen Lebensqualität, die von den Herrschenden versprochen wird, und so groß ist die geballte Macht der Massenmedien (vor allem des Fernsehens), die den Herrschenden zu Gebote stehen. Wie Legehühner haben die Italiener das neue Heiligtum der Ware und des Konsums, das nie mit Namen genannt wird, angenommen.“

„Ich weiß“
Wenige Monate vor seinem Tod erreichte Pasolinis kritische Auseinandersetzung mit den Verhältnissen einen Höhepunkt. Er griff vehement den „Palazzo“, das seit 1946 durchgängig bestehende Herrschaftssystem der Democrazia Cristiana (DC) an – konkret die Verstrickungen in Korruption, in mafiöse Umtriebe und in den Terrorismus. Denn Italien – das Land mit der stärksten kommunistischen Partei Westeuropas – war ab 1969 von einer Reihe besonders blutiger Terroranschläge erschüttert wurde, die stets mit Richtungsentscheidungen zusammenfielen. „Keine andere westliche Demokratie hat auch nur annähernd vergleichbar schwere und zahlreiche, politisch motivierte Attentate erlebt wie Italien. In keiner anderen westlichen Demokratie ist der Mordanschlag in diesem Ausmaß zu einem Instrument im politischen Kampf geworden wie in Italien“, betont Alessandro Silij in seiner Studie „Verbrechen, Politik, Demokratie in Italien“. Insgesamt wurden bei acht größeren Sprengstoffanschlägen zwischen 1969 und 1987 419 Menschen getötet und 1.181 wurden verletzt. Dabei handelte sich um völlig „wahllose“ Terrorakte, jeder konnte sich als potentielles Opfer fühlen, weshalb auch von einer „Strategie der Spannung“ gesprochen wird. Wie nach einem Drehbuch verfolgten die Behörden nach diesen Massakern zunächst eine „anarchistische“ Spur. Tatsächlich verantwortlich waren Bombenleger aus dem neofaschistischen Lager, von Organisationen wie „Ordine Nuovo“, „Avantguardia Nationale“ und „Fronte Nationale“. Aber darüber hinaus gab es ein erstaunliches Ausmaß an „stillem“ Komplizentum seitens des Macht- und Sicherheitsapparates: Verschiedene Geheimdienste förderten nachweislich die Aktivitäten der Neofaschisten, manipulierten sie mittels eingeschleuster Informanten und verwischten im Nachhinein Spuren. Das Kalkül der „Strategie der Spannung“ war offenbar, den konservativen status quo abzusichern und einen Linksruck in Italien zu verhindern.

Am 14. November 1974 erschien im „Corriere della Sera“ eine Kolumne Pasolinis mit dem Titel „Der Roman von den Massakern“: „Ich weiß. Ich weiß die Namen der Verantwortlichen für das, was man Putsch nennt (und was in Wirklichkeit von einer ganzen Serie von Putschen besteht, die zu einem System der Herrschaftssicherung geworden sind). Ich weiß die Namen der Verantwortlichen für die Bomben von Mailand am 12. Dezember 1969. Ich weiß die Namen der Verantwortlichen für die Bomben von Brescia und Bologna von Anfang 1974. Ich weiß die Namen des Spitzengremiums, das sowohl die alten Faschisten – die Planer der Putsche – steuerte, als auch die Neofaschisten, die mit eigener Hand die ersten Bomben legten und schließlich die unbekannten Urheber der jüngsten Anschläge. […] Ich weiß. Aber mir fehlen die Beweise. Ich habe nicht einmal Indizien.“ Manche Beobachter orten in diesen verklausulierten Sätzen bereits ein Motiv für einen politischen Mord. Pasolini sei mächtigen Kreisen so unbequem geworden, dass man ihn zum Schweigen brachte. 1975, als er sich auf dem Höhepunkt seines künstlerischen Schaffens befand und Gerüchte über eine bevorstehende Ehrung mit dem Literaturnobelpreis kursierten, erzielte die KPI 33 Prozent in den Umfragen. Pasolini selbst forderte zu diesem Zeitpunkt einen öffentlichen Prozess gegen die politische Elite. Von anderen Intellektuellen erntete er aber nur vielsagendes Schweigen: „Ohne einen derartigen Strafprozess wird es keine Hoffnung für unser Land geben. Aber warum muss ich allein diese Anklage vorbringen? Warum interveniert ihr nicht: Branca, Petuccioli, Zanetti, Bocca, Moravia? Alle Politiker und alle Parteien teilen mit den Christdemokraten Blindheit und Verantwortung. Schweigen auf der einen und Ignoranz auf der anderen Seite, ein Pakt der Macht: eine Diplomatie des Schweigens. Wovor haben wir Angst?“ Letztendlich hatte Pasolini die „Tangentopoli“-Korruptionsprozesse der Jahre 1992/93 vorweggenommen – erst an diesem Punkt kollabierte das System der „ersten Republik“ endgültig.

„Petrolio“
Ein weiteres Indiz, dass für einen politischen Mord ins Feld geführt wird, ist das Romanfragment „Petrolio“, das 1992 posthum erschien. Darin klagt Pasolini die wirtschaftliche und politische Korruption an – allerdings konnte nur knapp ein Drittel des umfassenden Werks nach seinem Tod sichergestellt werden. „Petrolio“ weist zahlreiche „Anmerkungen“ auf – eine davon, die Nr. 22 – bezieht sich auf ein ungelöstes Rätsel der italienischen Nachkriegsgeschichte: Den Tod des Vorsitzenden des damals noch verstaatlichten Erdölunternehmens ENI, Enrico Mattei. Dieser war 1962 beim Absturz seines Privatflugzeugs ums Leben gekommen. Ursprünglich als Unfall abgetan, ist mittlerweile nachgewiesen, dass eine Bombe an Bord explodiert war. Mattei hatte sich zahlreiche Feinde gemacht: Dazu zählten das anglo-amerikanische Erdölkartell (auch „sieben Schwestern“ genannt) und der französische Nachrichtendienst, der an der Unterstützung des ENI-Vorsitzenden für algerische Rebellen Anstoß nahm. Die Verantwortung für den Mord konnte bislang nicht geklärt werden. In „Petrolio“ nennt Pasolini Mattei „Ernesto Bonocore“ und skizziert die engen Verflechtungen der Großindustrie mit der DC. Die Namen von Matteis Nachfolger Eugenio Cefis und des langjährigen Ministerpräsidenten Giulio Andreotti finden sich in einem Organigramm der wichtigsten italienischen Machtblöcke. Von „Anmerkung 21“ mit dem Titel „ Blitzartige Beleuchtung der ENI“ existiert dagegen nur ein Deckblatt – was Spekulationen nährt, es würde Hinweise auf Schuldige im Mordfall Mattei enthalten.

Am 2. März 2010 überraschte der Senator der Berlusconi-Partei, Marcello Dell’Utri, mit der Ankündigung, er sei im Besitz dieses fehlenden Abschnitts und würde diesen auf der Mailänder Buchmesse präsentieren. Umgehend berichten Medien, die Seiten wären aus der Wohnung Pasolinis gestohlen worden und enthielten den Schlüssel zum Rätsel seiner Ermordung. Gegen Dell’Utri liefen damals umfangreiche Ermittlungen wegen Verstrickungen mit der Mafia. Als es dann soweit war, enttäuschte der Senator: Der Kontaktmann, der ihm knapp 80 Seiten Notizen angeboten hatte, sei nicht wieder aufgetaucht – offenbar verschreckt vom Medienrummel. Bemerkenswerterweise erhielt Dell’Utri drei Monate später um zwei Jahre weniger Haftstrafe, als in der ersten Instanz verhängt worden waren.

Zu den Akten gelegt
Ebenso merkwürdig war schon 2009 ein Brandanschlag auf die Bar Necci gewesen, wo „Accattone“ gedreht worden war. Die unbekannten Täter nahmen das Pasolini-Foto in der Bar ab, verbrannten diese und hängten zuletzt das Bild wieder in der Ruine auf. Das geschah am selben Tag, als die römische Staatsanwaltschaft auf Druck von Pasolinis Angehörigen die Ermittlungen wieder aufnahm. 2014 wurden auf Kleidern des Mordopfers DNA-Spuren von mindestens fünf verschiedenen Personen nachgewiesen. Im selben Jahr stellte Abel Ferrara seinen Spielfilm „Pasolini“ mit William Dafoe in der Hauptrolle vor. Der Regisseur bekundete vollmundig: „Ich weiß, wer Pasolini getötet hat, aber ich werde seinen Namen nicht nennen.“ Im Film dagegen bleibt der Schlussakt schemenhaft. Zuletzt entschied die zuständige Richterin Maria Agrimi im März 2015, die Akten wieder zu schließen. Aus Sicht des Gerichtes hatten sich keine belastbaren neuen Beweise ergeben. Der Tod Pasolinis bleibt also ungeklärt, aber sein Werk und sein leidenschaftlicher, kompromissloser Widerspruch sind aktueller denn je. 

Mittwoch, 14. Oktober 2015

Wien und das „schmutzige Geld der Diktatoren“

Kultur, Musik, Melange, Prater, Sachertorte – das sind die gängigen und betont harmlosen Klischees zu Wien. Es gibt aber auch dunkle Seiten. Auf eine davon nimmt der britische Autor John Le Carre in seinem Spionageroman „Marionetten“ (A Most Wanted Man, 2008) Bezug. Die kurze, aber prägnante Sequenz handelt von einem russischen Oberst, der all das Schwarzgeld, das er im postkommunistischen Umbruch angehäuft hat, in Sicherheit bringt – und zwar in einer Wiener Privatbank unter Mithilfe des britischen Geheimdiensts. Warum gerade dort? Dazu heißt es bei Le Carre: „Wladimir mochte Wien. Seine Delegationen hatten ihn ein paar Mal dorthin geführt. Er mochte den Wiener Walzer und die Wiener Bordelle und die Wiener Schnitzel. Wo würde er also hinfahren, um von Zeit zu Zeit sein Geld zu besuchen, als ins gute alte Wien?“

Innerhalb der letzten Jahre ist die österreichische Hauptstadt vermehrt als bevorzugter Wohn- oder Anlageort osteuropäischer Oligarchen, arabischer Potentaten und umstrittener Exilanten in die Schlagzeilen gekommen. Die Gründe dafür sind mannigfaltig – neben der politischen Neutralität, der hohen „Lebensqualität“, der zentralen geografischen Lage und laschen Strafen für Spionage spielt noch ein weiterer Faktor eine Rolle: Wegen seiner Intransparenz ist der Finanzplatz Österreich seit Jahrzehnten Anziehungspunkt für Gelder aus dunklen Quellen. Das ist die Hauptaussage von Florian Horcickas Buch „Das schmutzige Geld der Diktatoren“, das 2015 bei Kremayr & Scheriau erschienen ist.

Für den „Format“-Journalisten Horcicka bieten manche westeuropäische Demokratien wie Österreich umstrittenen Machthabern ideale Möglichkeiten, ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen: „Strenges Bankgeheimnis, Privatstiftungsrecht, diskrete Steuerberater und Rechtsanwälte sowie die bisweilen (un-)heimlich wohlwollende Unterstützung der Politik begünstigen die klandestinen Machenschaften. Geldwäsche, die ermöglichte Verletzung von Menschenrechten in den Herkunftsländern, Steuerhinterziehung in großem Stil und sogar einige Morde sind die tragische Folge.“ Insbesondere Österreich, so Horcicka, genieße international den Ruf als „sicherer Hafen für Geld“: „Neben der Schweiz und Liechtenstein genießt Österreich für seine finanzielle Diskretion nämlich Weltruhm. Nirgendwo anders lässt sich Vermögen einfacher investieren, tarnen und dann wieder außer Landes schaffen als in Wien oder Salzburg. Und es bleibt hierzulande genug hängen, um die Maschinerie aus Banken, Rechtsanwälten, Beratern, Steuerexperten und Polit-Günstlingen am Leben zu erhalten.“

Fällt die Steueroase Österreich?
Noch 2013 belegte Österreich im „Schattenfinanzindex“ des Tax Justice Network Platz Nr. 18: Weit vor den als Steueroasen berüchtigten britischen Jungferninseln (20), Liechtenstein (33), den Bahamas (35), Zypern (41) oder Irland (47). Seitdem hat sich viel getan: Ab 2016 fällt das Bankgeheimnis sowohl für In- als auch Ausländer. Mit Ende 2017 sollen dann erstmals Daten an ausländischen Steuerbehörden übermittelt werden. Österreich hatte sich innerhalb der EU lange geweigert, diesen Informationsaustausch umzusetzen. Erst wenn tatsächlich ein Strafverfahren gegen einen ausländischen Bankkunden eingeleitet wurde, konnte das betreffende Konto auf richterlichen Beschluss geöffnet werden.

Ob die  Lockerung des Bankgeheimnisses die „großen Fische“ aus Österreich vertreiben wird, ist fraglich. Denn viele Steuerprivilegien bleiben ohnedies bestehen: Einerseits durch das Stiftungsrecht, andererseits sind Vermögen durch die Abschaffung von Vermögens- und Erbschaftssteuern praktisch steuerfrei. Die Zahl österreichischer Stifter und Begünstigter (darunter auch Oligarchenstiftungen mit Sitz in Wien) beträgt laut Horcicka „zwischen 3000 und 6000 Rechtssubjekte“.

Gazprom-Drehscheibe Wien
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion flossen enorme Geldmengen aus Osteuropa nach Österreich. „Seit Anfang der neunziger Jahre konnten sich bekannte kriminelle Autoritäten ein schönes Leben in den Wiener Luxushotels machen oder prächtige Villen in ganz Österreich kaufen. Mit ihren prallen Geldbündeln, weil sie den Banken noch nicht vertrauten, war in Österreich sowieso vieles zu kaufen, nicht nur Sachwerte wie Immobilien oder Edelmarken-Luxuskitsch“, befindet der deutsche Experte in Sachen organisierter Kriminalität, Jürgen Roth. Ein gutes Beispiel für die Tätigkeit russischer Investoren in Österreich ist Gazprom, der größte und mächtigste Konzern Russlands mit rund 500.000 Mitarbeitern und einem Jahresgewinn von rund 28 Milliarden Dollar. Heute sei Wien die Drehscheibe für die wichtigsten russischen Gasaktivitäten in Westeuropa. Nicht umsonst meinte der Anwalt des Regimekritikers Michail Chodorkowskij schon 2008: „Wien ist der Abwasserkanal der russischen Geldwäsche. Wir können nicht für Demokratie in Russland kämpfen, wenn wir den Fluss schmutzigen Geldes nach Österreich nicht stoppen können.“ Ähnliches trifft auch auf andere osteuropäische Länder zu – so sollen sich die ukrainischen Geschäftsinteressen in Österreich auf 1,6 Milliarden Euro an gebunkerten Vermögen belaufen. „Nicht zuletzt deshalb, weil österreichische Banken in der Ukraine höchst aktiv sind bzw. waren, das heimische Bankgeheimnis gerade im Osten einen guten Ruf genießt und die Möglichkeit der diskreten und steuerschonenden Privatstiftung Vermögen geradezu magnetisch anzieht“, so Horcicka.

Ein Blick zurück
Zwischen 1982 und 2004 wickelte die Golden Star Bank AG in der Wiener Kaiserstraße Nr. 12 Geschäfte nordkoreanischer Firmen und Personen ab – als einzige Bank des kommunistischen Regimes in der westlichen Hemisphäre. Was genau hinter den Fassaden ablief, konnte nie restlos geklärt werden – jedenfalls war man dort nicht nur Finanzgeschäften nachgegangen. Seitdem tätigt das für Beschaffung zuständige „Office 39“ des nordkoreanischen Geheimdiensts immer wieder Embargogeschäfte auch in Österreich.
Nordkoreanische Vertretung in Wien (Foto: Autor)
Laut westlichen Geheimdienstkreisen erfüllte die in Wien-Wieden angesiedelte Third World Relief Agency (TWRA) Anfang der 1990er Jahre eine Schlüsselrolle, wenn es darum ging, radikal-islamistischen Kräfte auf dem Balkan finanziell und logistisch zu unterstützen. Der Verein war 1987 von den sudanesischen Brüdern Fatih und Sukarno Hassanein gegründet worden. Die TWRA soll eine der wichtigsten Nachschubkanäle für das Bürgerkriegsland Bosnien gewesen sein, nachdem die UNO 1991 ein Waffenembargo erhängt hatte. Zwischen 1992 und 1995 sollen 350 Millionen US-Dollar nach Bosnien geflossen sein – wenigstens die Hälfte der Summe wurde aufgewendet, um Waffen zu kaufen und zu schmuggeln.

Die Aktivitäten der TWRA waren kein Einzelfall: Bei der Erste Bank in Wien existierte noch im Jahr 2001 ein Konto der im Sudan registrierten Al Ahamal Islamic Bank, die vom US-Geheimdienst ebenfalls dem Finanznetzwerk von Osama Bin Laden zugerechnet wurde.  Kurze Zeit später, am 15. Juni 2002, hörte der italienische Geheimdienst ein Gespräch zwischen zwei Jihadisten in Mailand ab: „Das Land, von dem alles seinen Ausgang nimmt, ist Österreich“, sagte der Algerier Abderrazak Mahdjoub. „Also ist Österreich eine große Macht geworden“, entgegnete sein Gesprächspartner, der ägyptische Imam Nasr Usama Mustafa Hasan. „Ja, alles verkehrt dort“, sagte Mahdjoub, „dort ist jede Menge Geld im Umlauf“.

„Unverhältnismäßig ruhig“
Österreich hat einen auf den ersten Blick paradox anmutenden Weg gefunden, für stabile Verhältnisse zu sorgen: Allen potentiellen „Unruhestiftern“ wird ein Umfeld geboten, in dem sie sich wohlfühlen und ungestört ihren Aktivitäten nachgehen können – solange nichts „passiert“ und Österreichs eigene Sicherheit betroffen ist. Emil Bobi hält dazu in seinem Buch „Die Schattenstadt“ (2014) fest: „Die Geheimdienste, die Mafia-Größen, die Großkriminellen, die terroristischen Schläfer und die anderen Schattenfiguren der Macht nutzen Wien als Ruheraum, bringen ihre Schäfchen ins Trockene, genießen das Bankgeheimnis und das einschlägige Verständnis der Stadt für ihre Zielgruppe. Ihren Organisationen ist es strikt verboten, in dieser Stadt aufzufallen oder gar Schießübungen zu veranstalten. Tatsächlich ist Wien, verglichen mit der Dichte der anwesenden einschlägigen Personen, unverhältnismäßig ruhig.“ Auch Horcicka betont, dass in Wien ein Art „unausgesprochenes Abkommen“ gilt: „Geschossen wurde lieber in Budapest, Warschau oder Bratislava – in Wien ging und geht es österreichisch-gemütlich ab – meistens jedenfalls.“ Ungeachtet der Morde an den Geschäftsleuten Sergej Achmedow (1994), Izrael Laster (1996) und dem georgischen Mafia-Paten David Sanikidze (1996) gilt Wien als „sicherer Hafen für Finanz-Jongleure“. In Österreich selbst nennen man so einen Ort „Leo“ – „und dieses Leo wird noch gemütlicher mit einer begehrten Staatsbürgerschaft, die bisweilen sogar mit Geld zu kaufen ist“.

Danach gefragt, warum es eigentlich so viele dubiose Gestalten an die Donau ziehe, antwortete „Kieberer“-Legende Max Edelbacher 2012 im profil-Interview: „Da ist einmal das sehr einladende Bankensystem. Dann gibt es hier diese balkanesische Gastfreundschaft und die Mentalität des Gebens und Nehmens. Das zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte. Geld stinkt nicht in Österreich, da fragt niemand, woher das kommt.“ Wien sei immer schon ein „Rückzugsgebiet für Schmuggler und Verbrecher aller Art“ gewesen – „immer gab es auch politische Verflechtungen und daraus entstandene Freundschaftskontakte. Das alles hat sich im Wesen bis heute nicht verändert. Siehe Haider-Gaddafi, siehe gekaufte Staatsbürgerschaften“, so Edelbacher.

Manchmal muss man Farbe bekennen
Wenn es dennoch „laut“ wird und kein anderer Ausweg bleibt, als sich einzumischen, macht die Republik oft keine besonders gute Figur: Als sich 2007 eine junge Ukrainerin unter ungeklärten Umständen auf dem Grundstück der Döblinger Villa von Saif Gaddafi (Sohn des gestürzten libyschen Diktators) verletzte, reiste dieser nur wenige Stunden später ab – an Bord des Jets eines österreichischen Bauunternehmers. Die Ermittlungen wurden ohnedies eingestellt. Als 2011 Muammar al-Gaddafis Regime unterging, befanden sich laut Nationalbank 1,2 Milliarden Euro an Spar- und Termineinlagen libyschen Ursprungs auf österreichischen Konten – ein internationaler Spitzenwert

Der lange Arm russischer Interessen wurde in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2011 überdeutlich. Der per Interpol-Haftbefehl gesuchte ehemalige KGB-Offizier Michael Golowatow war am Wiener Flughafen verhaftet worden. „Vertreter der russischen Botschaft bemühten sich sofort um den Festgenommenen, der Botschafter intervenierte telefonisch um 3.20 Uhr beim Wiener Oberstaatsanwalt und konnte eine Überstellung Golowatows in eine Justizanstalt verhindern. Wenige Stunden später war er frei und konnte ein Flugzeug nach Moskau besteigen“, berichtete die deutsche „Zeit“.

„Züge eines schlechten James-Bond-Films“ – die Causa Aliyev
Rakhat Aliyev  war bis zur Scheidung in Abwesenheit Schwiegersohn des seit 1990 amtierenden kasachischen Präsidenten Nursultan Nasarbajew. Außerdem war er Hauptaktionär einer der größten kasachischen Banken, der Nurbank. Als zwei Manager dieser Bank 2007 verschwanden, verlangten die kasachischen Behörden von Österreich (wo Aliyev damals Botschafter war) die Auslieferung. Weil erhebliche Zweifel daran bestanden, dass Aliyev ein rechtsstaatliches Verfahren erwartete, wurde dies 2007 und 2011 verweigert. Dreimal soll der kasachische Geheimdienst KNB daraufhin eine Entführung Aliyevs geplant haben. Österreich sei seinem Ruf, „der Tummelplatz schlechthin für Spione aller Herren Länder zu sein“, gerecht geworden, merkte Alijev in seiner umstrittenen Verteidigungsschrift „Tatort Österreich“ (2013) an: „Die illustren Aktivitäten der kasachischen Geheimdienste nahmen hierzulande nämlich die Züge eines schlechten James-Bond-Films an.“ Laut Horcicka ist aber auch klar: „Aliyev und sein Clan nutzten Österreich und seine speziellen Strukturen für Vermögenstransaktionen und mutmaßliche Geldwäsche im großen Stil.“

Um die seit 1991 bestehenden guten wirtschaftliche Kontakte zwischen Österreich Kasachstan nicht zu stören, wurde Aliyev 2011 aufgefordert, Österreich zu verlassen. Er tat dies mit einem eigens für ihn ausgestellten Fremdenpass und hielt sich in Malta auf. Erst nachdem der Anwalt Gabriel Lansky für seine Mandanten – ein Unterstützungsverein der Witwen der Mordopfer mit angeblichen Verbindungen zum KNB – massiven Druck auf die Strafverfolgungsbehörden aufbaute, wurde ein Haftbefehl erlassen. Alijev wurde nach seiner Rückkehr nach Österreich im Juni 2014 verhaftet. Die Anklage gegen ihn und zwei kasachische Mitverdächtigen wegen Erpressung, Freiheitsentzug, schwerer Nötigung und Mord hatte das Potential, „eines der größten ­Strafverfahren in der österreichischen Justizgeschichte zu werden“ („Tagesanzeiger“). Doch am 24. Februar 2015 wurde Alijev erhängt in seiner Zelle gefunden. Es wurden keine Anzeichen für Fremdverschulden gefunden. 
Grabstätte Alijevs am Wiener Zentralfriedhof (Foto: Isiwal/Wikimedia Commons)
Tod eines Ex-Premierministers, Attentatspläne gegen einen Oligarchen
Mysteriös geblieben ist der Tod des ehemaligen libyschen Premierministers Shukri Ghanem geblieben: Dieser hatte sich nach dem Ausbruch der libyschen Revolution nach Österreich abgesetzt, wo er seit seiner Tätigkeit für die OPEC einen unbefristeten Aufenthaltstitel innehatte. Am 29. April 2012 trieb Ghanem ertrunken in der Neuen Donau. Zuvor soll er laut Staatsanwaltschaft einen Herzinfarkt erlitten haben. Tatsächlich spricht vieles gegen diese offizielle Version, Unter Gaddafi war Ghanem Chef der staatlichen Erdölgesellschaft gewesen und hatte die Kontrolle über zahlreiche libysche Investmentfonds. Laut den Recherchen von Horcicka soll sich Ghanem im Wiener Exil geweigert haben, Gelder an den revolutionären Übergangsrat freizugeben. Daraufhin wurde ein Killerkommando in Marsch gesetzt, Dessen Einreise bzw. die Identitäten der Mitglieder sollen dem Wiener Landesamt für Verfassungsschutz schon im Vorfeld „detailliert“ bekannt gewesen sein.

Ende 2014 wiederum machte ein angebliches Mordkomplott gegen den ukrainischen Oligarchen Dmitro Firtasch die Runde. Firtasch, gegen den wegen Veruntreuung von 250 Millionen Dollar ein US-Haftbefehl vorlag, wurde von der österreichischen Justiz nicht ausgeliefert. Anfang März 2015 zauberte Firtasch eine „Agentur für die Modernisierung der Ukraine“ aus der Tasche – mit Ex-ÖVP-Vizekanzler Michael Spindelegger für einige Monate als Hauptkoordinator. In Wien bewohnt Firtasch laut Horcicka die Mietvilla Wolter in der Hietzinger Gloriettegasse – Vorbesitzer war der Aliyev-Clan. Ob das ein gutes Omen ist? Zwischenzeitlich sollen schon Killer aus Ungarn und Rumänien eingereist sein, um Firtasch im Auftrag von geprellten Gegnern zu ermorden. Ein Staatsanwalt meinte dazu: „Ich habe mich nicht sonderlich gewundert, denn erstens kommt Firtasch aus dem Osten und zweitens ist viel Geld im Spiel.“

Am Schluss von „Das schmutzige Geld der Diktatoren“ fordert Horcicka, dass Österreich die angesammelten Altlasten loswerden müsse: „Kein leichtes Unterfangen, schließlich ist auf Rechtssicherheit und Rechtsstaatlichkeit zu achten. Die riesigen Immobilien-Anhäufungen wird man also kaum wirksam angreifen können. Das Gleiche gilt für in Österreich etablierte Firmen und Tochterunternehmen ausländischer Imperien. Bleiben einzelne Kontenöffnungen bei Verdachtsfällen von Geldwäsche oder Terrorismusfinanzierung.“ Das treffe aber nur eine kleine Gruppe von Geschäftsleuten, während man sich an die „großen Fische“ nicht heranwage. Es bleibt also abzuwarten, was die große Wende beim Bankgeheimnis tatsächlich bringt. Fest steht nur eines: Es kann nicht so weitergehen wie bisher!

Hinweis: Erschienen in "Die Zukunft", Nr. 7/2015.

Donnerstag, 1. Oktober 2015

„Sorry guys, no gold“: US-Waffenlager in Österreich und das „Sonderprojekt“ Franz Olahs

Am 20. Jänner 1996 lud die US-Botschafterin Swanee Hunt eine Delegation zu einem Arbeitsessen in ihre Residenz. Sie eröffnete der Runde, dass von die CIA Waffenlager in Österreich angelegt hatte. Wenige Tage später übergab Hunt einen Karton mit 79 Kuverts an Innenminister Caspar Einem und meinte: „Sorry guys, no gold!“ Die Depots waren neben der Aufstellung von Widerstandsnetze (stay behind) waren Teil der geheimen Vorbereitungen auf den Ernstfall, den „Dritten Weltkrieg“. Vor dem Hintergrund des spannungsgeladenen frühen Kalten Krieges hatten sowohl die westlichen Alliierten, und hier vor allem die USA, als auch österreichische Entscheidungsträger Maßnahmen gegen eine Invasion des Warschauer Paktes bzw. gegen einen kommunistischen Putsch ergriffen.

Aus westlicher Sicht schienen die kommunistischen Machtübernahmen in der Tschechoslowakei und Ungarn (1947/1948), die Berlin-Blockade und der „große Bruch“ zwischen Tito und Stalin (1948), der Verlust des westlichen Atomwaffenmonopols (1949) sowie der Koreakrieg (1950-1953) eine eminente Bedrohung zu bestätigen. Im militärisch besetzten Österreich, wo die Machtblöcke unmittelbar aufeinandertrafen, sorgten ein angeblicher kommunistischer Putschversuch im Oktober 1950 und eine mögliche Teilung des Landes entlang der der Demarkationslinie ebenfalls für große Verunsicherung. Zwischen Herbst 1945 und 1951 rechnete sich der US-Generalstab überhaupt wenige Chancen aus, Westeuropa wirksam verteidigen zu können. So war auch in den sogenannten Pilgrim-Plänen „Able, Baker, Charlie und Dog“ vorgesehen, dass falls die Sowjetunion über Österreich und Jugoslawien nach Norditalien vorstoßen würde, die britischen und französischen Truppen sich nach West-Italien oder Triest zurückziehen sollten. Dort sollte die Front stabilisiert und ein Gegenangriff vorbereitet werden. Währenddessen sollten Guerilla- und Partisaneneinheiten in den besetzten Gebieten aktiv werden.
Funde von 1996 aus einem Depot in Eugendorf  (ausgestellt im Salzburger Wehrgeschichtlichen Museum, alle Fotos: Autor)
 „stay behind“
Die beachtliche Rolle von Spezialkräften bzw. paramilitärischen Einheiten in den alliierten Kriegsplanungen sollte die Schwächen im konventionellen Bereich ausgleichen. Basierend auf den Erfahrungen mit dem antifaschistischen Widerstand, deutschen Kommandounternehmen und den ersten alliierten Spezialverbänden während des 2. Weltkriegs hatte sich eine neue Doktrin unkonventioneller Kriegsführung herausgebildet. Diese umfasste unter anderem Sabotage, Infiltration, Subversion, Enthauptungsschläge, Hinterhalte, „psychologische Operationen“ und Informationsgewinnung hinter feindlichen Linien. Nach 1945 neu aufgestellte Kräfte, aber auch antikommunistische Guerilla-, Exilanten- und Freiwilligenverbände wurden als integraler Bestandteil der westlichen Kriegsführung angesehen. Wie bereits erwähnt war zunächst ein Rückzug aus Kontinentaleuropa eingeplant – gefolgt von einer Phase des strategischen Luftkriegs bis hin zur Rückeroberung. Sowohl was die Verlangsamung des sowjetischen Vormarschs als auch die Vorbereitung der finalen Gegenoffensive anging, kam dem Guerilla- und Partisanenkrieg in den besetzten Gebieten eine entscheidende Bedeutung zu.

Vorgesehen war, dass sich die Spezialstreitkräfte im Falle einer Invasion zunächst entweder vom Feind „überrollen“ lassen sollten („stay behind“) oder später „einsickern“ würden. Danach sollten diese Kräfte im Rücken der Front Kommunikations- und Infrastrukturnetze, Kommandostellen sowie Nachschublinien angreifen. Weiters ging es darum, „escape lines“ für alliierte Agenten, politisches Spitzenpersonal und VIPs, abgeschossene Piloten und Kriegsgefangene sowie Überläufer durch die sowjetischen Linien anzulegen. Außerdem sollten sie selbst als Ausbildner und Rekruteure lokaler Partisaneneinheiten fungieren oder – sofern diese bereits bestanden – diese unterstützen und anleiten. Und schließlich sollten die Spezialkräfte dazu beitragen, Regionen abseits der Vormarschlinien so lange wie möglich zu halten bzw. in ihren Einsatzräumen die Vorrausetzungen für eine alliierte Gegenoffensive zu schaffen. Zwecks praktischer Umsetzung wurde unter dem Codenamen „Easeful“ ab Dezember 1949 ein breit angelegtes Guerillaausbildungsprogramm gestartet – wofür seitens der US-Armee Waffen, Logistik, Instrukteure und Ausbildungsstätten zur Verfügung gestellt wurden. Auf diese Weise entstanden nach der NATO-Gründung (1949) in allen Mitgliedsländern der Allianz sowie in den neutralen Ländern Finnland, Schweden und der Schweiz entsprechende stay behind-Strukturen, die spätestens 1990/91 aufgelöst wurden. Während der konkrete Anlassfall, eine sowjetische Invasion, nie eintrat, wurden stay behind-Einheiten in einigen NATO-Mitgliedsländern wie Türkei und Griechenland im Inneren aktiv, meistens gegen linke oder kommunistische Oppositionelle. In Italien wird eine mögliche Involvierung in rechtsextremen Terrorismus der 1970er und 1980er Jahre diskutiert („Gladio“).

„Aktion Wühlmaus“
Zwischen 1949 und 1954 waren in Österreich im Bereich der amerikanischen Besatzungszone, vereinzelt aber auch außerhalb der Zone, in der nördlichen Steiermark 79 Waffenlager angelegt worden. 65 dieser Depots wurden nach entsprechender Information durch US-Botschafterin Hunt 1996 im Rahmen der „Aktion Wühlmaus“ geöffnet: Vorwiegend in Holzkisten verstaut, fanden sich rund 300 Pistolen, 50 Panzerabwehrrohre, 250 Karabiner, 270 Maschinenpistolen, 65 Maschinengewehre, 20 Sonderwaffen, 2.700 Handgranaten, 230.000 Schuss Munition, 1.150 Panzerabwehrgranaten sowie 3.400 kg Sprengstoff. Im Bericht, den eine Regierungskommission zu Waffenlagern erstellte, wird hervorgehoben, dass in den meisten Lagern deutschsprachige Anleitungen zur Führung eines Guerillakrieges, Landescheinwerfer, „Welrod“-Schalldämpferpistolen und Jagdmesser sowie „reichlich“ Sprengstoff und Zubehör für Sabotageakte sichergestellt wurden: „Das lässt darauf schließen, dass die Lager – zumindest auch – für österreichische ‚Widerstandskämpfer‘ angelegt worden waren. Zur Unterstützung eines Guerillakrieges mit eventueller Unterstützung aus der Luft (Nachschub von Waffen und Ausrüstung).“ Das Material hätte insgesamt für bis zu 1.000 Mann gereicht.





 Genauer ließen sich die Funktion, aber auch eine mögliche österreichische Beteiligung, nicht bestimmen, da sich die von den USA zur Verfügung gestellten Dokumente auf Inhalt und Lage der Depots beschränkten – die an der Regierungskommission beteiligten Historiker konnten somit in ihrem Beitrag zum Abschlussbericht nur festhalten, dass die Anlage der Waffenlager „mit den konkreten amerikanischen Plänen eines Rückzugs aus Österreich im Falle einer direkten Konfrontation“ korrelierte. Im Zuge der öffentlichen Debatte hierzu meldete sich ein Zeitzeuge zu Wort, der ehemalige Widerstandskämpfer, Verleger und Sekretär des damaligen Außenministers Karl Gruber, Fritz Molden (1924-2014). Ihm zufolge sei bereits 1946 „im engsten Kreis“ der Regierung besprochen worden, was für den Fall der Errichtung des Eisernen Vorhangs innerhalb Österreichs zu tun sei. Fast ein Jahr habe es dann gedauert, bis die Alliierten davon überzeugt werden konnten, dass es notwendig wäre, für diesen Fall auch Waffenlager anzulegen. So sei man daran gegangen, „Widerstandsgruppen“ aufzubauen – in Ministerien, Gewerkschaften und Wirtschaft. Die Initiative sei also nicht von den USA, sondern – „streng geheim“ – von der österreichischen Regierung ausgegangen.
Fotos von der Bergung 1996 (ausggestellt im Salzburger Wehrgeschichtlichen Museum)
2006 erschien „My Father, the Spy: An Investigative Memoir“ – ein Buch des Autor John F. Richardson über seinen Vater, der Ende der 1940er Jahre CIA-Stationschef in Wien war. Darin wird auch die praktische Umsetzung des stay behind-Programms erwähnt: Demnach rekrutierte die CIA österreichische Funker und ließ Funkgeräte an ausgewählten Punkten innerhalb der sowjetischen Zone vergraben. CIA-Dokumente zu dieser Operation Iceberg wurden im Rahmen des War Crimes Disclosure Act freigegeben: Demnach wurden zwischen 1948 zehn Verstecke in Westösterreich, vor allem im Wienerwald, angelegt, in denen sich Funkgeräte, codierte „signal plans“ und Generatoren befanden. Aus diesen geheimen Depots sollten stay behind-Agenten ihre Ausrüstung beziehen, um im Kriegsfall mit den Alliierten Kontakt aufzunehmen und Informationen durchzugeben – bezüglich militärischer, politischer und wirtschaftlicher Ziele. Aktiv werden sollten sie erst nach Ausbruch von Kampfhandlungen bzw. nachdem sie die Front „überrollt“ hatte.
Der Codename GRCGROOND bezeichnete alle stay behind-Operationen in Österreich. Ziel war (1.) bereits bestehende und potentielle paramilitärische Kapazitäten weiter auszubauen. Damit waren in erster Linie Gewerkschafts-Einheiten gemeint, die auf Zentral- und Ost-Österreich verteilt waren. Hier kann es nur das „Sonderprojekt“ gemeint sein, das im Anschluss behandelt wird. Im Fokus befanden sich weiters (2.) „indigene“ Gruppen, in abgelegenen, schwer zugänglichen Landstrichen in Salzburg-Tirol sowie (3.) Einzelpersonen, die über das gesamte Bundesgebiet verstreut waren. Für diese verschiedenen Kräfte sollten brauchbare Operationsbasen für den Kriegsfall mit der Roten Armee gefunden werden. Weiters ging es darum, eine „Flucht- und Evakuierungsroute“ von Ost- nach Westösterreich anzulegen, deren Zubringer bis an die ungarische sowie tschechoslowakische Grenze heranreichen sollten. Ebenso sollten Kuriere entlang dieses Weges Nachrichten hinein und hinausbringen.
Aus einer Auflistung von 1957 geht hervor, wie viele geheime Waffen- und Ausrüstungslager bis dahin angelegt worden waren: 12 (1951), 14 (1952), 3 (1953) und 35 (1954). Die Depots wurden teils im alpinen Geländen – am Hochschwab, im Sengsengebirge, am Pötschen- und Phyrnpass angelegt – und darüber hinaus unter anderem in der Nähe von Lambach, Ried im Innkreis, am Traun- und Attersee, Bad Hofgastein oder südlich von Steyr. Ein Vergleich mit einer Auflistung jener Waffendepots, die 1996 vom Bundesheer geräumt wurden, zeigt zahlreiche Übereinstimmungen. Das stay behind-Programm blieb auch nach Unterzeichnung des Staatsvertrags aktiv: 1955 wurden insgesamt 12 Sabotage- und 10 „air-receiption“-Lager angelegt (die Ausrüstung in letzteren Depots dürfte dazu gedient haben, Landeplätze für Luftnachschub zu markieren).

Das „Sonderprojekt“ Franz Olahs
Die Initiative zum wichtigsten stay behind-Netz war von österreichischen Entscheidungsträgern aus dem Regierungs- und Gewerkschaftsapparat ausgegangen – während die Finanzierung (einer Aussage zufolge zwischen acht und zehn Millionen Schilling) höchstwahrscheinlich über die CIA bzw. die antikommunistische American Federation of Labor and Congress of Industrial Organizations (AFL-CIO) bereitgestellt wurde. Die treibende Kraft war der damalige Vorsitzende der Gewerkschaft der Bau- und Holzarbeiter und spätere Innenminister Franz Olah (1910-2009). Dieser war im Oktober 1950 an der Auflösung einer Streikbewegung gegen das 4. Lohn- und Preisabkommen beteiligt gewesen. Die Ereignisse waren von der SPÖ-ÖVP-Regierung als Putschversuch der Kommunistischen Partei (KPÖ) interpretiert worden. Um für den „Fall einer neuerlichen Machtprobe mit den Kommunisten“ gerüstet zu sein, wurde laut Olah mit dem Aufbau einer „systematischen Abwehrorganisation“ begonnen. Dieses sogenannte „Sonderprojekt“ lief zwecks Tarnung unter einem eigens gegründeten Verein namens Österreichsicher Wander-, Sport- und Geselligkeitsverein (ÖWSGV), über den Fahrzeuge und Räumlichkeiten angemietet wurden. Die Geschichte des „Sonderprojekts“ lässt sich schwer rekonstruieren, weil Olah laut eigener Angabe im Keller des Gewerkschaftsgebäudes in der Wiener Ebendorfer Straße gelagerte Unterlagen vernichten ließ: „Dort lagen alle Korrespondenzen seit 1945 und anderes. Meinen Mitarbeiter sagte ich: Alles was ihr glaubt, dass es unnötig ist, dreht’s durch den Papierwolf. Ich selbst war bei der Vernichtung nicht dabei. Aber später habe ich gesehen: Es war ein riesiger Berg von Papierschnitzeln.“

Auszug aus den Statuten des ÖWSGV (1952)
Wie Olah in seinen Erinnerungen betont, war das zentrale Element des „Sonderprojekts“ der Aufbau eines Funknetzes. So wurden in allen Bundesländern (mit Ausnahme von Vorarlberg) in den Hauptstädten Funkgeräte installiert – in Niederösterreich auch in Wiener Neustadt, St. Pölten und Krems. Das stellte die Koordination der verschiedenen ÖWSGV-Gruppen sicher – diese waren nicht nur mobil, sondern auch schlagkräftig: „Wir hatten Jeeps, Geländefahrzeuge, Landrover, Motorräder und andere Fahrzeuge. Es erfolgte auch die Ausbildung von Spezialgruppen nicht nur in modernen, leicht zu handhabenden Schusswaffen (Schnellfeuerwaffen), in modernem Sprengstoff (Plastiksprengstoff) sowie in der Ausbildung von Judogruppen.“ Als Olah 1969 vor Gericht gefragt wurde, woher die Angehörigen des „Sonderprojekts“ ihre Kenntnisse hatten, antwortete er: „Sie waren im Krieg. Aber ihre Kenntnisse wurden von Fachleute in Ausbildungslagern aufgefrischt, sie wurden ja eigens geschult.“
Als Vereinsadresse wurde ein Gemeindebau in Wien-Penzing angegeben
In der Wiener Liebhartsgasse befand sich ein Depot, weitere Waffenlager wurden im Westen, außerhalb der sowjetischen Zone, eingerichtet: „Die eigentlichen großen Lager (zwei oder drei) von Waffen aller Art waren unter Doppelsperre. Ich hatte die Möglichkeit, mit einer zweiten Person gemeinsam erforderlichenfalls davon Gebrauch zu machen. […] Im Salzburgerischen, in Golling, lagerte die Winterausrüstung für eine komplette Kompanie. Ein Angestellter der Stadt Wien, ein ausgebildeter Waffenmeister, war freigestellt, um unsere Ausrüstung in Schuss zu halten – im wahrsten Sinne des Wortes.“ Olah selbst hatte in einem Stahlschrank in seinem Büro „einen kleinen Vorrat an Waffen bis hin zu Maschinenpistolen, um uns im Notfall den Weg freizumachen“. Außerdem verfügte man über eine „große Zahl“ von Tränengasbomben, „deren Einsatz wäre bei Unruhen am Anfang viel wirksamer und auch viel vernünftiger gewesen als sofort zu schießen“. Mehrere Regierungsmitglieder – Innenminister Oskar Helmer, Gewerkschaftsbundpräsident Johann Böhm und Bundespräsident Adolf Schärf – sollen laut Olah über das Sonderprojekt informiert gewesen sein, „allerdings ohne Kenntnis der Details der Organisation“. Insgesamt, so Olah, seien „wohl ein paar tausend Österreicher mit unseren Vorbereitungen in Kontakt gekommen“. Der eigentliche Apparat bestand jedoch nur aus ein paar Dutzend Leuten, „meist Gewerkschafts- oder SPÖ-Funktionäre aus den Bundesländern; einige von ihnen sind später Mandatare geworden“. Einen Vergleich mit dem republikanischen Schutzbund der Zwischenkriegszeit ließ Olah nicht gelten: „Nein, nein! Das einzige was geprobt worden ist und geübt worden ist, war der Funk. Für den haben wir die Leute geschult. Wir haben sie auch für den Waffengebrauch eingeschult. Sagen wir, für den ersten Schreck. Zur Verteidigung vielleicht von wichtigen Gebäuden, Amtsgebäuden, Gewerkschaftsgebäuden, Regierungsgebäuden usw. Wo die Exekutive sagen wir, nicht hätte eingreifen können.“


Ausschnitt aus Ausbildungsmanual zur Bedienung eines RS1-Funkgeräts, das von stay behind-Netzwerken verwendet wurde
Bezüglich der Hintermänner des „Sonderprojekts“ hielt sich Olah zeitlebens bedeckt – Befehle wollte er „von niemanden“ erhalten haben: „Aber kein Zweifel – die USA waren unsere stärkste Stütze, ja, unser Verbündeter. […] Was uns verband war das gemeinsame Interesse, einer gewaltsamen Machtergreifung der Sowjets oder deren Handlanger jeden nur möglichen Widerstand entgegenzusetzen.“ Olah gab an, er habe noch 1963 „zwei Millionen Schilling von den Geldgebern des Sonderprojekts erhalten und versprochen, keine Namen zu nennen“. Die Truppe blieb auch nach 1955 bestehen. Wie Olah betonte, war zwar die „unmittelbare Bedrohung“ weggefallen, „dann aber kamen das Jahr 1956 und der sowjetische Einmarsch in Ungarn, der jenes Gefühl der Sicherheit doch als ein sehr brüchiges und möglicherweise trügerisches entlarvte. Deswegen lösten wir unsere Vorsorgeeinrichtungen erst allmählich auf.“ Der ÖWSGV sei reorganisiert und in einzelnen anderen Teilen z.B. auf dem Gebiet des Funkwesens aufgebaut und erweitert worden: „Durch die Anschaffung von modernen Funkgeräten, deren Reichweite größer war und die in verschiedenen Gegenden Österreichs in gegen Witterung schützender Verpackung an unbegangenen Stellen ins Erdreich vergraben wurden.“ Die endgültige Liquidierung erfolgte erst im Jahr 1967 – im Gefolge von Olahs Rücktritt als Innenminister und seinem Ausschluss aus dem Österreichischen Gewerkschaftsbund (ÖGB) und der SPÖ (1964).

Im Rückblick bezeichnete Olah „alle Vermutungen über Zusammenhänge mit ähnlichen Organisationen im Ausland (z.B. „Gladio“)“ als „Märchen“. Auch mit den 1996 gefundenen Waffenlagern habe seine Organisation „nichts zu tun“ gehabt. Tatsächlich war im Zuge von „Aktion Wühlmaus“ ein Lager besonders aufgefallen: Es befand sich in Weichselboden-Höll, einem idyllischen Talschluss am nördlichen Rand des Hochschwab. Die darin verborgenen Waffen hätten für eine ganze Kompanie gereicht – inklusive 30.000 Schuss Munition, 450 kg Plastiksprengstoff und Sanitätsmaterial einschließlich Morphiumspritzen. Werner F., damals Gendarmeriepostenkommandant in Mariazell, erinnert sich noch genau an die Bergung: „Weichselboden-Höll ist ein streng behütetes Jagd- und Wasserschutzgebiet. Dort hat der Erzherzog Johann gejagt, und später ging es in den Besitz der Grafen von Meran über. In einem Nebengebäude der Jagdhütte, der Brunnsteiner Keusche, direkt unter dem Fußboden war das Waffenlager, ohne dass jemand etwas davon gewusst hätte. Die haben damals unter strenger Geheimhaltung Tag und Nacht gearbeitet. Ich selbst habe den Bagger in der Hütte graben gesehen. Draußen haben die Hirsche geröhrt, denn es war mitten zur Brunftzeit. Und den arroganten Kerl vom Innenministerium, der die Leitung hatte, sehe ich immer noch vor mir herumlaufen.“

Weichselboden-Höll
HINWEIS: Exponate und Dokumente zum ÖWSGV sind in der neugestalteten Ausstellung des Salzburger Wehrgeschichtlichen Museums zu sehen (Kaserne Schwarzenberg, www.wehrgeschichte-salzburg.at)

Siehe dazu auch: Thomas Riegler, Das Geheimnis des Mühlbachberges, in: Datum Nr.10/2015, 40-44.