Nie
zuvor und nie wieder danach befanden sich so viele hochrangige Politiker in den
Händen von Terroristen: Die Geiselnahme während der Ministerkonferenz der
Organisation Erdöl exportierender Länder (OPEC) in Wien am 21. Dezember 1975
nimmt bis heute eine Sonderstellung in der Geschichte des modernen Terrorismus
ein. Ein sechsköpfiges Kommando, angeführt von dem damals 26jährigen
Venezolaner Ilich Ramirez Sanchez (besser bekannt als „Carlos“), hatte
insgesamt 62 Geiseln genommen, darunter 11 Erdölminister. Es gab drei Tote zu
beklagen – einen österreichischen Polizisten, einen irakischen Leibwächter und
einen libyschen Delegierten. Thomas Riegler rekonstruiert anhand von Dokumenten
und Zeitzeugeninterviews den spektakulären Fall und setzt diesen in den Kontext
österreichischer Sicherheitspolitik bzw. heutiger Bedrohungen.
LINK zum Buch:
Auszug aus der Einleitung
Der „Coup“ von Wien
erregte weltweite Aufmerksamkeit. Bezugnehmend auf andere
Terroranschläge und Geiselnahmen in den Jahren davor, meinte das deutsche
Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“: „Eine israelische Olympiamannschaft in
München, ein amerikanischer Botschafter in Khartum, ein deutscher Lufthansa-Jet
in Aden – o.k., das waren bei einiger Gedankenakrobatik Feindobjekte. Aber elf
Ölminister, am 4. Advent im molligen Wien am Konferenztisch von Arabern
kollektiv gekapert – das war Aberwitz-Kidnapping, Fantasia, trotz blutigem
Anfang und kläglichem Ende.“ Dem
britischen Journalisten David A. Yallop zufolge hatte Carlos, gemessen an der
Finanzkraft, die die 11 Erdölminister repräsentierten, „die reichste Gruppe von
Geiseln der bisherigen Weltgeschichte in seine Gewalt gebracht.“
Die
OPEC-Geiselnahme war in vielerlei Hinsicht eine bedeutende Wegmarke in der
Entwicklung moderner terroristischer Gewalt: Im Unterschied zum „älteren“ Terrorismus mit seinen
primär nationalen Bezügen wurde der Anschlag in Wien als „Joint Venture“
grenzübergreifend vorbereitet, organisiert und durchgeführt. Ganz bewusst wurde
mediale Aufmerksamkeit auf das „Palästinenserproblem“ gelenkt. Noch wichtiger
waren allerdings geheime Machenschaften: Einerseits ging es um Geldbeschaffung
für palästinensische Gruppen, andererseits war die Geiselnahme eine Folge des
Machtkampfes innerhalb der OPEC. Vor allem Libyen unter Muammar al-Gaddafi
wollte die Preispolitik beeinflussen und benutzte die Terroristen als
Stellvertreterstreitmacht, um Druck auf seine Gegner – Saudi-Arabien und den
Iran –auszuüben. Insofern steht die OPEC-Geiselnahme für instrumentalisierten
Terrorismus, der vor allem eine Botschaft zwischen staatlichen Akteuren
kommunizierte.
Während sich die
Bedeutung staatlicher Sponsoren im gegenwärtigen radikal-islamistischen
Terrorismus deutlich verringert hat, haben sich Aspekte der „Transnationalität“
weiter herauskristallisiert: Internationale Agenda und Ideologie,
multinationale Mitgliedschaft, Einbindung in globale Netzwerkstrukturen und
medial gesteigerte Schockeffekte. Vieles kann allerdings als Weiterentwicklung
älterer Medienstrategien und Kooperationsmechanismen begriffen werden. Zwar ist
es richtig, dass der Islamische Staat (IS), der spätestens seit 2014 große
Teile des Irak und Syriens kontrolliert, frühere Gruppen in Sachen
territorialer Kontrolle, militärischer Stärke, Gewaltintensität, Inszenierung
und eigenen Einkommensquellen übertrifft. Aber dieser Vorsprung stellt, wie
Loretta Napoleoni betont, „keine genetische Mutation dar“, sondern resultiert
aus der Fähigkeit des IS, „sich dem schnell verändernden Umfeld in einer
globalisierten Welt anzupassen“. Schon
in den 1970er und 1980er Jahren bildeten die palästinensischen Organisationen
ein transnationales Netzwerk, das verschiedenste Gruppen mit unterschiedlicher
Agenda unter dem Deckmantel des „Antiimperialismus“ verband. In vielerlei Hinsicht waren die 1970er Jahre
sogar ein „goldenes Zeitalter“ des Terrorismus – während etwa in den USA in
dieser Zeitspanne 184 Menschen getötet und 600 verletzt wurden, gab es zwischen
2001 und Mitte 2015 74 Todesopfer.
Der
größte Unterschied zwischen dem „alten“ und „neuen“ Terrorismus besteht jedoch
in den völlig veränderten Rahmenbedingungen: „Der ‚alte’ Terrorismus“, so der deutsche
Zeithistoriker Wolfgang Kraushaar, „war zweifellos ein Terrorismus im Zeitalter
des Kalten Krieges. Er ist jedoch nicht nur allgemein vom Kontext des
Ost-West-Konflikts, sondern in einer besonders zugespitzten Form vom
Spannungsfeld des Nahen Ostens geprägt worden.“
Anders als bei den heutigen amorphen Netzwerken dominierten in den
1970er und 1980er Jahren durchorganisierte Kaderorganisationen mit fixen Basen
und abgestuften Hierarchien.
Selbstmordattentate kamen erst im libanesischen Bürgerkrieg in den
1980er Jahren auf und blieben bis zum 11. September 2001 vereinzelt. Der
neuartige Terrorismus, der sich nach den Anschlägen in New York und Washington
herauskristallisierte, ist einerseits ein „Produkt“ der Globalisierung, was
sich in seiner multinationalen Ausrichtung, der Rolle des Internets als
virtuelle Rekrutierungs- und Ausbildungsstätte sowie der Medienfixierung seiner
Aktionsformen widerspiegelt; andererseits dominiert radikaler Fundamentalismus,
wo vor einigen Jahrzehnten noch säkulare Orientierung vorherrschte. Auch hat
der moderne radikal-islamische Terrorismus demonstriert, dass er kaum mehr
Sponsoring benötigt. Ausbildungslager befinden sich in Bürgerkriegsgebieten,
anstatt wie noch in den 1970er und 1980er Jahren von gewissen Staaten
protegiert oder geduldet zu werden. Und schließlich haben sich die
Kommunikationsmöglichkeiten potenziert: Die OPEC-Geiselnehmer mussten noch die
Verlesung einer maschinengetippten Botschaft im Radio erzwingen. Diese
Differenzen machen deutlich, dass die Vergleichsmöglichkeiten mit der Gegenwart
begrenzt sind.
Der Überfall auf
die OPEC-Ministerkonferenz ist im historischen „Gedächtnis“ der Zweiten
Republik haften geblieben – auch weil es sich bei Carlos um einen der
„schillerndsten“ terroristischen Gewalttäter der 1970er und 1980er Jahre
handelte. Sein Gesicht stand für den Terror jener Jahre, der sich vor allem in
Flugzeugentführungen und Anschlägen von palästinensischen Gruppen in Westeuropa
ausdrückte. Über Carlos, der 1994 im
Sudan verhaftet wurde, sind gerade im deutsch- und englischsprachigen Raum
zahlreiche Biografien veröffentlicht
worden.
Im
Rahmen von „Tage des Schreckens“ werden die Hintergründe und der Ablauf der
Ereignisse auf Basis von Primärquellen rekonstruiert. Der wichtigste Bestand hierzu
befindet sich in der 1984 gegründeten Wiener Stiftung Bruno Kreisky Archiv
(StBKA), das den politischen und persönlichen Nachlass von Bruno Kreisky
umfasst. Abgesehen von polizeilichen Ermittlungsakten und außenpolitischen
Dokumenten befindet sich darunter auch das detaillierte Tagebuch von Josef
Staribacher (1921-2014), das dieser über seine Amtszeit als Bundesminister für
Handel, Gewerbe und Industrie (1970 bis 1983) führte. Aus diesen Aufzeichnungen
eröffnet sich ein subjektiver, aber auch einzigartiger Einblick in das innere
Funktionieren der Regierung Kreisky. Schon 1976 hatte das Bundeskanzleramt das
Weißbuch „Die Vorfälle vom 21/22. Dezember 1975. Ein Dokumentationsbericht“
veröffentlicht. Dieses enthält neben der offiziellen Erklärung Kreiskys zur
OPEC-Geiselnahme vor dem Nationalrat (27. Jänner 1976) eine detaillierte
Chronologie sowie Berichte zu den Verhandlungen am Schauplatz und der
Tatbestandsaufnahme.
Von besonderer
Bedeutung sind weiters Erkenntnisse aus drei bundesdeutschen Gerichtsverfahren
gegen Beteiligte an der OPEC-Geiselnahme – Gabriele Kröcher-Tiedemann (Köln,
1990), Hans-Joachim Klein (Frankfurt am Main, 2000/2001) sowie Sonja Suder
(Frankfurt, 2012/2013). Relevante Dokumente aus dem Archiv der Behörde des
Bundesbeauftragten für die Unterlagen der Staatssicherheit der DDR (BStU) bzw.
aus dem Österreichischen Staatsarchiv/Archiv der Republik (ÖSTA/AdR) runden das
Bild ab. Einen weiteren Schwerpunkt bilden Zeitzeugenberichte: Für dieses Buch
berichtete unter anderem der Bundesminister außer Dienst, Erwin Lanc, über
seine Teilnahme am Sonderministerrat zur OPEC-Geiselnahme. Erstmals ausführlich
äußerte sich der Sohn des getöteten Staatspolizisten, Gerhard Tichler, über
seinen jahrzehntelangen Kampf für Gerechtigkeit. Und mit dem ehemaligen Leiter
des Bundesamts für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT), Gert Rene
Polli, stellte ein ausgewiesener Experte Bezüge zur aktuellen Situation her.
Zu
den wichtigsten Ergebnissen zählen:
1. Die Geiselnahme
der Erdölminister war eine komplexe Operation, die von terroristischen Kräften
im Verbund mit staatlichen Akteuren geplant und durchgeführt wurde. Neben
Libyen dürften weitere arabische Staaten eine wichtige Rolle im Hintergrund
gespielt haben.
2. Die Tatsache,
dass die Terroristen relativ einfach in das OPEC-Generalsekretariat eindringen
konnten, offenbart gravierende Schwächen und Fehleinschätzungen auf Seiten der
Behörden – und dass obwohl Österreich in den Jahren davor bereits mit terroristischer
Gewalt konfrontiert war. Das Fehlen eines polizeilichen Spezialverbandes wirkte
sich nachteilig aus. Auch bei der abschließenden Tatortaufnahme und
Spurensicherung unterliefen Fehler, die die gesamte weitere Aufklärung negativ
beeinflussen sollten.
3. Das politische
Krisenmanagement von Bruno Kreisky verlief im Großen und Ganzen erfolgreich.
Allerdings zeigt sich die übergeordnete Priorität, so rasch als möglich zur
Tagesordnung zurückzukehren: Alle Forderungen der Geiselnehmer wurden erfüllt,
bei der Abwicklung kam es mehrmals zu Pannen.
4. Eine effektive
Strafverfolgung der Terroristen wurde vernachlässigt. Österreich war vor allem
besorgt, als Standort für internationale Organisationen Schaden zu erleiden.
Von daher wollte man die guten Beziehungen zu arabischen Staaten nicht aufs
Spiel setzen – etwa in der Auslieferungsfrage oder durch weitere
Nachforschungen. Bis heute hat kein Verfahren zur OPEC-Geiselnahme vor einem
österreichischen Gericht stattgefunden.
5. Schon vor dem
Anschlag hatte Österreich wirtschaftliche Kontakte zu Libyen geknüpft, die sich
Ende der 1970er Jahre weiter vertieften. Daran änderten auch Hinweise, wonach
das Regime von Muammar al-Gaddafi in die OPEC-Geiselnahme verwickelt war,
nichts. Im Gegenteil, Kreisky sollte den libyschen Machthaber stets in Schutz
nehmen, wenn es um die Terrorismusproblematik ging.
6. Als Antwort auf die terroristische Bedrohung
reagierte Österreich mit einem Bündel an Maßnahmen, die polizeilicher, aber vor
allem politischer Natur waren – um den Nahostkonflikt präventiv zu entschärfen
und so für mehr Sicherheit zu sorgen.