Mittwoch, 9. Dezember 2015

Neues Buch: „Tage des Schreckens: Die OPEC-Geiselnahme 1975 und die Anfänge des modernen Terrorismus“

Nie zuvor und nie wieder danach befanden sich so viele hochrangige Politiker in den Händen von Terroristen: Die Geiselnahme während der Ministerkonferenz der Organisation Erdöl exportierender Länder (OPEC) in Wien am 21. Dezember 1975 nimmt bis heute eine Sonderstellung in der Geschichte des modernen Terrorismus ein. Ein sechsköpfiges Kommando, angeführt von dem damals 26jährigen Venezolaner Ilich Ramirez Sanchez (besser bekannt als „Carlos“), hatte insgesamt 62 Geiseln genommen, darunter 11 Erdölminister. Es gab drei Tote zu beklagen – einen österreichischen Polizisten, einen irakischen Leibwächter und einen libyschen Delegierten. Thomas Riegler rekonstruiert anhand von Dokumenten und Zeitzeugeninterviews den spektakulären Fall und setzt diesen in den Kontext österreichischer Sicherheitspolitik bzw. heutiger Bedrohungen.

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Auszug aus der Einleitung
Der „Coup“ von Wien erregte weltweite Aufmerksamkeit. Bezugnehmend auf andere Terroranschläge und Geiselnahmen in den Jahren davor, meinte das deutsche Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“: „Eine israelische Olympiamannschaft in München, ein amerikanischer Botschafter in Khartum, ein deutscher Lufthansa-Jet in Aden – o.k., das waren bei einiger Gedankenakrobatik Feindobjekte. Aber elf Ölminister, am 4. Advent im molligen Wien am Konferenztisch von Arabern kollektiv gekapert – das war Aberwitz-Kidnapping, Fantasia, trotz blutigem Anfang und kläglichem Ende.“  Dem britischen Journalisten David A. Yallop zufolge hatte Carlos, gemessen an der Finanzkraft, die die 11 Erdölminister repräsentierten, „die reichste Gruppe von Geiseln der bisherigen Weltgeschichte in seine Gewalt gebracht.“

Die OPEC-Geiselnahme war in vielerlei Hinsicht eine bedeutende Wegmarke in der Entwicklung moderner terroristischer Gewalt: Im Unterschied zum „älteren“ Terrorismus mit seinen primär nationalen Bezügen wurde der Anschlag in Wien als „Joint Venture“ grenzübergreifend vorbereitet, organisiert und durchgeführt. Ganz bewusst wurde mediale Aufmerksamkeit auf das „Palästinenserproblem“ gelenkt. Noch wichtiger waren allerdings geheime Machenschaften: Einerseits ging es um Geldbeschaffung für palästinensische Gruppen, andererseits war die Geiselnahme eine Folge des Machtkampfes innerhalb der OPEC. Vor allem Libyen unter Muammar al-Gaddafi wollte die Preispolitik beeinflussen und benutzte die Terroristen als Stellvertreterstreitmacht, um Druck auf seine Gegner – Saudi-Arabien und den Iran –auszuüben. Insofern steht die OPEC-Geiselnahme für instrumentalisierten Terrorismus, der vor allem eine Botschaft zwischen staatlichen Akteuren kommunizierte. 

Während sich die Bedeutung staatlicher Sponsoren im gegenwärtigen radikal-islamistischen Terrorismus deutlich verringert hat, haben sich Aspekte der „Transnationalität“ weiter herauskristallisiert: Internationale Agenda und Ideologie, multinationale Mitgliedschaft, Einbindung in globale Netzwerkstrukturen und medial gesteigerte Schockeffekte. Vieles kann allerdings als Weiterentwicklung älterer Medienstrategien und Kooperationsmechanismen begriffen werden. Zwar ist es richtig, dass der Islamische Staat (IS), der spätestens seit 2014 große Teile des Irak und Syriens kontrolliert, frühere Gruppen in Sachen territorialer Kontrolle, militärischer Stärke, Gewaltintensität, Inszenierung und eigenen Einkommensquellen übertrifft. Aber dieser Vorsprung stellt, wie Loretta Napoleoni betont, „keine genetische Mutation dar“, sondern resultiert aus der Fähigkeit des IS, „sich dem schnell verändernden Umfeld in einer globalisierten Welt anzupassen“.  Schon in den 1970er und 1980er Jahren bildeten die palästinensischen Organisationen ein transnationales Netzwerk, das verschiedenste Gruppen mit unterschiedlicher Agenda unter dem Deckmantel des „Antiimperialismus“ verband.  In vielerlei Hinsicht waren die 1970er Jahre sogar ein „goldenes Zeitalter“ des Terrorismus – während etwa in den USA in dieser Zeitspanne 184 Menschen getötet und 600 verletzt wurden, gab es zwischen 2001 und Mitte 2015 74 Todesopfer.

Der größte Unterschied zwischen dem „alten“ und „neuen“ Terrorismus besteht jedoch in den völlig veränderten Rahmenbedingungen: „Der ‚alte’ Terrorismus“, so der deutsche Zeithistoriker Wolfgang Kraushaar, „war zweifellos ein Terrorismus im Zeitalter des Kalten Krieges. Er ist jedoch nicht nur allgemein vom Kontext des Ost-West-Konflikts, sondern in einer besonders zugespitzten Form vom Spannungsfeld des Nahen Ostens geprägt worden.“  Anders als bei den heutigen amorphen Netzwerken dominierten in den 1970er und 1980er Jahren durchorganisierte Kaderorganisationen mit fixen Basen und abgestuften Hierarchien.  Selbstmordattentate kamen erst im libanesischen Bürgerkrieg in den 1980er Jahren auf und blieben bis zum 11. September 2001 vereinzelt. Der neuartige Terrorismus, der sich nach den Anschlägen in New York und Washington herauskristallisierte, ist einerseits ein „Produkt“ der Globalisierung, was sich in seiner multinationalen Ausrichtung, der Rolle des Internets als virtuelle Rekrutierungs- und Ausbildungsstätte sowie der Medienfixierung seiner Aktionsformen widerspiegelt; andererseits dominiert radikaler Fundamentalismus, wo vor einigen Jahrzehnten noch säkulare Orientierung vorherrschte. Auch hat der moderne radikal-islamische Terrorismus demonstriert, dass er kaum mehr Sponsoring benötigt. Ausbildungslager befinden sich in Bürgerkriegsgebieten, anstatt wie noch in den 1970er und 1980er Jahren von gewissen Staaten protegiert oder geduldet zu werden. Und schließlich haben sich die Kommunikationsmöglichkeiten potenziert: Die OPEC-Geiselnehmer mussten noch die Verlesung einer maschinengetippten Botschaft im Radio erzwingen. Diese Differenzen machen deutlich, dass die Vergleichsmöglichkeiten mit der Gegenwart begrenzt sind.

Der Überfall auf die OPEC-Ministerkonferenz ist im historischen „Gedächtnis“ der Zweiten Republik haften geblieben – auch weil es sich bei Carlos um einen der „schillerndsten“ terroristischen Gewalttäter der 1970er und 1980er Jahre handelte. Sein Gesicht stand für den Terror jener Jahre, der sich vor allem in Flugzeugentführungen und Anschlägen von palästinensischen Gruppen in Westeuropa ausdrückte.  Über Carlos, der 1994 im Sudan verhaftet wurde, sind gerade im deutsch- und englischsprachigen Raum zahlreiche Biografien  veröffentlicht worden.

Im Rahmen von „Tage des Schreckens“ werden die Hintergründe und der Ablauf der Ereignisse auf Basis von Primärquellen rekonstruiert. Der wichtigste Bestand hierzu befindet sich in der 1984 gegründeten Wiener Stiftung Bruno Kreisky Archiv (StBKA), das den politischen und persönlichen Nachlass von Bruno Kreisky umfasst. Abgesehen von polizeilichen Ermittlungsakten und außenpolitischen Dokumenten befindet sich darunter auch das detaillierte Tagebuch von Josef Staribacher (1921-2014), das dieser über seine Amtszeit als Bundesminister für Handel, Gewerbe und Industrie (1970 bis 1983) führte. Aus diesen Aufzeichnungen eröffnet sich ein subjektiver, aber auch einzigartiger Einblick in das innere Funktionieren der Regierung Kreisky. Schon 1976 hatte das Bundeskanzleramt das Weißbuch „Die Vorfälle vom 21/22. Dezember 1975. Ein Dokumentationsbericht“ veröffentlicht. Dieses enthält neben der offiziellen Erklärung Kreiskys zur OPEC-Geiselnahme vor dem Nationalrat (27. Jänner 1976) eine detaillierte Chronologie sowie Berichte zu den Verhandlungen am Schauplatz und der Tatbestandsaufnahme.

Von besonderer Bedeutung sind weiters Erkenntnisse aus drei bundesdeutschen Gerichtsverfahren gegen Beteiligte an der OPEC-Geiselnahme – Gabriele Kröcher-Tiedemann (Köln, 1990), Hans-Joachim Klein (Frankfurt am Main, 2000/2001) sowie Sonja Suder (Frankfurt, 2012/2013). Relevante Dokumente aus dem Archiv der Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen der Staatssicherheit der DDR (BStU) bzw. aus dem Österreichischen Staatsarchiv/Archiv der Republik (ÖSTA/AdR) runden das Bild ab. Einen weiteren Schwerpunkt bilden Zeitzeugenberichte: Für dieses Buch berichtete unter anderem der Bundesminister außer Dienst, Erwin Lanc, über seine Teilnahme am Sonderministerrat zur OPEC-Geiselnahme. Erstmals ausführlich äußerte sich der Sohn des getöteten Staatspolizisten, Gerhard Tichler, über seinen jahrzehntelangen Kampf für Gerechtigkeit. Und mit dem ehemaligen Leiter des Bundesamts für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT), Gert Rene Polli, stellte ein ausgewiesener Experte Bezüge zur aktuellen Situation her.

Zu den wichtigsten Ergebnissen zählen:
1. Die Geiselnahme der Erdölminister war eine komplexe Operation, die von terroristischen Kräften im Verbund mit staatlichen Akteuren geplant und durchgeführt wurde. Neben Libyen dürften weitere arabische Staaten eine wichtige Rolle im Hintergrund gespielt haben.

2. Die Tatsache, dass die Terroristen relativ einfach in das OPEC-Generalsekretariat eindringen konnten, offenbart gravierende Schwächen und Fehleinschätzungen auf Seiten der Behörden – und dass obwohl Österreich in den Jahren davor bereits mit terroristischer Gewalt konfrontiert war. Das Fehlen eines polizeilichen Spezialverbandes wirkte sich nachteilig aus. Auch bei der abschließenden Tatortaufnahme und Spurensicherung unterliefen Fehler, die die gesamte weitere Aufklärung negativ beeinflussen sollten.

3. Das politische Krisenmanagement von Bruno Kreisky verlief im Großen und Ganzen erfolgreich. Allerdings zeigt sich die übergeordnete Priorität, so rasch als möglich zur Tagesordnung zurückzukehren: Alle Forderungen der Geiselnehmer wurden erfüllt, bei der Abwicklung kam es mehrmals zu Pannen.

4. Eine effektive Strafverfolgung der Terroristen wurde vernachlässigt. Österreich war vor allem besorgt, als Standort für internationale Organisationen Schaden zu erleiden. Von daher wollte man die guten Beziehungen zu arabischen Staaten nicht aufs Spiel setzen – etwa in der Auslieferungsfrage oder durch weitere Nachforschungen. Bis heute hat kein Verfahren zur OPEC-Geiselnahme vor einem österreichischen Gericht stattgefunden.

5. Schon vor dem Anschlag hatte Österreich wirtschaftliche Kontakte zu Libyen geknüpft, die sich Ende der 1970er Jahre weiter vertieften. Daran änderten auch Hinweise, wonach das Regime von Muammar al-Gaddafi in die OPEC-Geiselnahme verwickelt war, nichts. Im Gegenteil, Kreisky sollte den libyschen Machthaber stets in Schutz nehmen, wenn es um die Terrorismusproblematik ging.

6. Als Antwort auf die terroristische Bedrohung reagierte Österreich mit einem Bündel an Maßnahmen, die polizeilicher, aber vor allem politischer Natur waren – um den Nahostkonflikt präventiv zu entschärfen und so für mehr Sicherheit zu sorgen.