Montag, 23. Mai 2016

Papst-Attentat: Ein kleines Rädchen im Kriminalrätsel des Jahrhunderts

Vor 35 Jahren, am 13. Mai 1981, wurde Papst Johannes Paul II. auf dem Petersplatz von einem Attentäter angeschossen. Die dabei verwendete Waffe stammte von einem Händler aus Österreich.

Grünau im Almtal, wenige Tage nach dem Papstattentat: Otto Tinter, ein 70jähriger Rentner, nimmt Abschied am Grab seiner Frau. Nach der Beerdigung bekommt er unerwarteten Besuch. Es ist ein Kriminalbeamter, der ihm ein Fernschreiben vorhält. Daraus geht hervor: Es war eine von Tinter verkaufte Pistole, mit der das Oberhaupt der katholischen Kirche schwer verletzt wurde. Worin besteht die Verbindung zwischen dem „Verbrechen des Jahrhunderts“ und einem biederen oberösterreichischen Pensionär? Tinter – ein ehemaliger Konstrukteur in der Waffenabteilung der Steyr-Werke – hatte nicht einfach einen ruhigen Lebensabend verbracht. Er kaufte und verkaufte Waffen. Unter anderem war jene Pistole der Marke FN Browning, Kaliber 9 mm, mit der der Papst lebensgefährlich verletzt wurde, durch Tinters Hände gegangen. Mit einer Konzession als Waffenhändler wäre das sogar legal gewesen. Aber Tinter hatte keine solche Genehmigung. Man hatte sie ihm verweigert, obwohl die zuständige Sicherheitsdirektion einen zuverlässigen Lebenswandel bescheinigte. Tinter hielt das nicht ab – auch weil er seine an Schizophrenie erkrankte Tochter zu versorgen hatte, begann er ab 1977 Pistolen eben illegal zu verkaufen. Insgesamt waren es 150 Stück.

Unter anderem orderte er am 9. Juli 1980 in der Schweiz 22 zerlegte Faustfeuerwaffen und legte dafür den Lieferschein des konzessionierten Kremser Händlers Horst Grillmayer vor: „Der Name ist in Zürich bekannt. Ich habe ihn nur verwendet, weil ich dadurch niedrigere Preise bekam.“ Unter den Pistolen, die anschließend auf dem Postweg an Tinter gingen war jene FN Browning – von der Fabrique Nationale im belgischen Herstal. Von dort war die Waffe an den Schweizer Generalrepräsentanten nach Neuchâtel gegangen, der sie wiederum an das Züricher Waffengeschäft Glaser weiterhandelte. Hier bezog Tinter schließlich die Pistole. Der Weg der Browning ließ sich anhand der nicht herausgefeilten Seriennummer leicht nachvollziehen. Tinter blieb freilich das letzte Glied in der Kette – wie die Pistole in die Hand des Attentäters, des damals 23jährigen Türken Ali Agca, kam, ist nur eines von vielen Rätseln rund um den Anschlag auf Johannes Paul II. Tinter behauptete zunächst, der geheimnisvolle Mann sei ein Schweizer gewesen, der für mehrere Pistolen 60.000 Schilling in Franken bezahlt habe. Danach beließ es Tinter bei Andeutungen: „Ich weiß, dass ein hoher Wiener Finanzbeamter die Waffe eine Zeitlang besessen hat. Der hat sie dann in einem Kaffeehaus an zwei Türken verkauft.“
Wenige Wochen vor dem Attentat wohnte Agca in der Wiener Jheringstraße (Foto: H. Niklas)
Tinter und Agca wurden einander 1985 beim Prozess in Sachen Papstattentat gegenübergestellt. Beide wollten einander nie begegnet sein. Agca gab an, die Browning im März 1981 in Wien erworben zu haben. Damals versteckte er sich mit einem falschen Pass auf dem Namen Joginder Singh für einige Wochen in der Jheringstraße Nr. 33. In einem TV-Interview 2010 bestätigte Agca noch einmal, die Waffe „mit eigenen Mitteln“ in Österreich besorgt zu haben. In den 1980ern Jahre hatte er zusätzlich den Namen Grillmayer genannt – offenbar deswegen, weil sich Tinter auch beim Verkauf des Namens seines bekannteren Kollegen bedient hatte, um mehr Profit herauszuschlagen. Grillmayer, der von alldem nichts gewusst haben will, war nämlich eine große „Nummer“ im Geschäft: Er sprach nicht nur Türkisch, sondern reiste häufig nach Syrien, Libyen, in die DDR und andere osteuropäische Staaten. Anfang 1983 war Grillmayer selbst in einen Skandal verwickelt: 308 Pistolen, sieben Scharfschützengewehre und Maschinenpistolen sowie 15.000 Schuss Munition waren am Grenzübergang Kleinhaugsdorf abgefangen worden. Grillmayer war einer der Hintermänner des Deals. Der Fall schlug solche Wellen, dass sich Innenminister Erwin Lanc bei einer Pressekonferenz dagegen verwahrte, „Österreich als einen Tummelplatz internationaler Waffenschieber“ hinzustellen.

Doch zurück zur Mordwaffe: Vom Typus her war die halbautomatische Browning für das Töten auf kurze Distanz eigentlich nicht geeignet – die damit verschossenen Vollmantel-Projektile hatten keine „mannstoppende Wirkung“. So war es dann auch am 13. Mai 1981 während der Generalaudienz auf dem Petersplatz. Agca legte über die Köpfe von Gläubigen hinweg auf den 61jährigen Papst an, als dieser in einem offenen, weißen Jeep vorbeigefahren wurde. Um 17.17 Uhr drückte Agca zwei Mal ab. Der Papst sackte in sich selbst zusammen – großkalibrige Projektile hätten ihn umgestoßen. Aus der Körperhaltung des Killers, die auf Film- und Fotoaufnahmen gut dokumentiert ist, haben Ballistiker geschlossen, dass Agca bewusst auf die Beine und den Unterleib des Pontifex gezielt hatte. Sprich: Der gut trainierte Killer schoss nicht, um zu töten, sondern um zu verwunden. Tatsächlich kämpften die Ärzte fast fünfeinhalb Stunden um das Leben von Johannes Paul II. Ein Geschoß hatte mehrere Dünndarmschlingen und einen Teil des Dickdarms zerfetzt und war danach neben der Wirbelsäule wieder ausgetreten. Lebenswichtige Organe waren aber verschont geblieben. Der Papst selbst erklärte sich seine Rettung so: „Eine Hand hat die Pistole gehalten, eine andere die Kugel gelenkt.“
In diesem "Papamobil" befand sich Johannes Paul II., als auf ihn geschossen wurde (Quelle: Wikimedia Commons/Jebulon)
Die Frage, wer die Hand des Schützen „gelenkt“ hat, ist auch nach mehr als drei Jahrzehnten offen. Denn so viel ist klar – Agca war ein Auftragstäter. Er gehörte zu den „grauen Wölfen“, der Vorfeldorganisation einer 1961 gegründeten rechtsextremen Partei. Ende der 1970er Jahre als sich die Konfrontation zwischen Rechts und Links in der Türkei zuspitze, waren die „grauen Wölfe“ in zahllose Morde verstrickt. So erschoss Agca 1979 einen regimekritischen Journalisten und entkam kurze Zeit später unter ungeklärten Umständen aus der Haft. Danach reiste er ins kommunistische Bulgarien ein und verbrachte dort angeblich 50 Tage. Dieser Aufenthalt wurde zum Ausgangspunkt der bis heute bekanntesten Theorie in Sachen Papstattentat: Nämlich, dass Agca vom Geheimdienst angeheuert wurde. Im Hintergrund habe der KGB die Fäden gezogen. Denn der stramm antikommunistische Johannes Paul II. unterstützte die Gewerkschaft Solidarność in seinem Heimatland Polen und galt deshalb als ernste Bedrohung. Agca selbst nannte 1982 Namen angeblicher bulgarischer Hintermänner. Aber der Prozess gegen sie endete 1986 in Freisprüchen aus Mangel an Beweisen. Zu diesem Zeitpunkt hatte die „bulgarische Spur“ längst ein Eigenleben angenommen. Vor allem die Reagan-Administration propagandierte sie als Beleg dafür, dass Moskau die Quelle allen Übels sei. Heute ist die Spur „verblasst“, wie der ehemalige Untersuchungsrichter Rosario Priore meint. Und selbst der Pontifex bekundete bei einem Besuch in Sofia 2000, „niemals“ daran geglaubt zu haben.

Bleibt die „interne Spur“: Folgt man den Vertretern dieser These, so wollten innerkirchliche Gegner den Hardliner Johannes Paul II. stoppen. 2010 goss der notorische Selbstdarsteller Agca, der 19 abweichende Versionen zu seinen Hintermännern aufgetischt hat, auch hier Öl ins Feuer: Er bezichtigte den verstorbenen Kardinalstaatssekretär Agostino Casaroli der Kopf der Verschwörer gewesen zu sein. Wirklich auf den Grund gegangen ist man der „internen Spur“ nie – zu oft wurden Fragen der Ermittler mit dem Hinweis auf Souveränität des Vatikans abgeblockt.

Und schließlich ist da noch eine dritte Spur zu einem üblichen Verdächtigen: Der Mafia. Demnach wurde der Papst „bestraft“, weil Gelder des organisierten Verbrechens beim Zusammenbruch der Banco Ambrosiana verloren gegangen waren. Zuvor hatte dieses Mailänder Geldhaus gemeinsam mit der Vatikanbank eine undurchsichtige Rolle bei der Finanzierung der Solidarność gespielt. Auch in diesem Fall fehlen eindeutige Beweise. Wer auch immer das Attentat bestellte, es war letztlich ein Fehlschlag: Johannes Paul II. erholte sich schnell. Seine Entschlossenheit wurde durch die Überzeugung, mit himmlischem Beistand überlebt zu haben, erst recht angestachelt.

Und Otto Tinter? Das kleine Rädchen im „Verbrechen des Jahrhunderts“ wurde im Mai 1983 wegen seines umfangreichen privaten Waffenarsenals zu fünf Monaten bedingt verurteilt. Im Jahr darauf hagelte es noch eine saftige Geldstrafe wegen Steuerhinterziehung und Urkundenfälschung. Antworten blieb Tinter bis zuletzt schuldig: „Ich bin 73 und zu 80 Prozent invalid. Ich kann mich nicht an alles erinnern.“

Hinweis: Geringfügig gekürzte Version ist am 22. Juni in der Presse am Sonntag erschienen.